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Holger van den Boom

 

GRUNDLAGEN?

von Holger van den Boom

 

Vor vielen Jahren, zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts, gab es eine Grundlagenkrise in der Mathematik. Das ist der einzige mir bekannte Fall, wo man sich in einer Wissenschaft ernsthafte Sorgen um die Grundlagen gemacht hat. In der Mathematik handelte es sich darum, dass logische Widersprüche in ihr aufgetreten waren, um deren Bereinigung es zu tun war. Es ist klar, dass eine auf Beweis gegründete Disziplin in ihrer Substanz bedroht wäre, wenn es Widersprüche in ihren Lehrbeständen gäbe. Die Mathematiker bereinigten die Krise, indem sie noch größere &laqno;Strenge» bei ihren Beweisen walten ließen und vor allem die formalisierte Axiomatik voran trieben, d.h. die Theoreme bis zu den grundlegendsten Sätzen, den Axiomen, zurück verfolgten.

Design ist keine axiomatische Wissenschaft, Design ist gar keine Wissenschaft. Design ist eine Praxis. Üblicherweise zählt man zum Design im weiteren Sinne jedoch auch einige theoretische Bestände, Designtheorie oder Designwissenschaft genannt, hinzu. Und man erklärt, in gewisser Weise bildeten solche theoretischen Aussagen die &laqno;Grundlage» des Designs, eben seine theoretischen oder wissenschaftlichen Grundlagen. So bildet die Medizin die wissenschaftliche Grundlage des Arztberufs. Medizinische Behandlung auf wissenschaftlicher Grundlage ­ das schafft Vertrauen, zumindest beim überwiegenden Teil der Bevölkerung.

Design auf wissenschaftlicher Grundlage? Zumindest beim überwiegenden Teil der Designer stößt diese Vorstellung auf allertiefstes Misstrauen. Baustatik auf wissenschaftlicher Grundlage ­ das geht in Ordnung. Architektur auf wissenschaftlicher Grundlage: warum bloß? Und erst Design? Immer dann, wenn wir das Ergebnis einer Praxis glauben selber beurteilen zu können, ist es uns vollkommen gleichgültig, ob dabei Wissen eine Rolle gespielt hat oder nicht. Wenn mir der Stuhl gefällt, was soll mir da Wissenschaft? Es kommt dann aber einer und erzählt etwas von Ergonomie. Zusammenhang von Sitzgelegenheit und Rückenschmerzen. Der Stuhl erscheint in einem anderen Licht. Sitze ich gesund darauf? Und wie stelle ich das fest? Wenn ich das selbst nicht ohne weiteres feststellen kann, wäre es mir doch ganz lieb, wenn der Designer die wissenschaftliche Ergonomie berücksichtigt hätte.

Die hauseigene Mythologie der Designer meint hartnäckig zu wissen, dass es z.B. bezüglich der Farben einige Lehren gibt, die aus der Wissenschaft stammen und im Design &laqno;angewendet» werden können. Überhaupt scheint irgendwie die ganze Wahrnehmungspsychologie im Ruf zu stehen, Anwendung im Design zu haben. Wenn das stimmt, schadet es natürlich auch nicht, etwas über soziale Zusammenhänge zu wissen. Und so weiter. Das ist das klassische Feld der &laqno;Bezugswissenschaften». Sie sind kaum nützlich, aber schaden auch nicht. Bestenfalls gehen sie in die &laqno;Rezepte» ein, nach denen Design gekocht wird.

Mit Grundlagen hat all dies nichts zu tun. Eine wirkliche Grundlage wäre conditio sine qua non. Gibt es so etwas im Design? Es wäre etwas, ohne das wir plötzlich auf dem Trocknen sitzen könnten, so dass wir nicht weiter wüssten und nicht weiter kämen.

Ja, es gibt so etwas. Es ist die Antwort auf die Frage: Was ist Design? Wenn Design alles ist, brauchen wir uns um Grundlagen keine Sorgen zu machen. Wenn Design etwas Beliebiges ist, brauchen wir uns um Grundlagen ebenfalls keine Sorgen zu machen. Doch wenn Design etwas Spezifisches ist, sieht die Sache ganz anders aus. Wenn wir wüssten, was das Spezifische des Designs ist, hätten wir eine solide Grundlage, dann wüssten wir: das, was wir machen, ist Design ­ wir hätten nicht auf Sand gebaut. Uns kann nichts passieren. Design ist das und das, also genau das, was wir schon machen ­ und das wird so bleiben, jetzt können wir uns um die Details kümmern.

Wenn ein Designer sich hinsichtlich dessen, was Design ist, irrt, nun ja, dann könnten die Jobs woanders hin gehen. Aber vielleicht hat er auch Glück: das, was er macht, gleichgültig, ob es Design ist oder nicht, findet seinen Job. Die Sache wird nur dann prekär, wenn wir jemandem versprechen, ihn zum Designer auszubilden ­ und Design ist etwas ganz anderes als wir ihm sagen und zeigen und vormachen.

Es ist heute kein Geheimnis mehr, dass die allermeisten Design-Jobs ­ sei es im Grafik- oder Kommunikationsdesign, sei es im Industrial Design, sei es im Mediendesign ­ per Computernutzung abgewickelt werden. Als ich dieses ­ heutige ­ Faktum vor zwanzig Jahren an der HBK Braunschweig vorhersagte (was kinderleicht war), fiel ein Sturm der Entrüstung über mich her. Wenn ich jetzt prophezeie, dass in abermals zwanzig Jahren, also in den ersten 15 Berufsjahren derer, die wir gegenwärtig ausbilden, der Computer die Denkweise der Designer, d.h. derjenigen die sich dann als genuine Designer fühlen, radikal verändert haben wird ­ wenn ich also dies prophezeie, fällt abermals ein Sturm der Entrüstung über mich her: Nein, die grundlegende Denkweise, die Grundlagen des Designs, die werden sich nie verändern!

Da haben wir sie, die Grundlagen. Die Grundlagen werden sich nicht verändern? Ich sage: gerade sie!

Ich höre: Wenn sich die Grundlagen ändern, dann ist das kein Design mehr. Das klingt mir in den Ohren wie die Klage des ehemaligen Schweizer Uhrmachermeisters: Wenn sich die Grundlagen der Zeitmessung vom Mechanischen zum Elektronischen änderten, dann sei das keine Uhr mehr. Dieser Uhrmachermeister verdient jetzt ­ gottseidank! ­ sein Geld in der Swatch-Industrie.

Worauf ich gern aufmerksam machen würde, ist, dass das Design von Hardware (auch ein Plakat ist Hardware) sich in Zukunft nach dem Design von Software richten wird! In Zukunft gilt: Nur wer Software gestalten kann, kann auch Hardware gestalten. Das Umgekehrte gilt überhaupt nicht!

Und zwar deshalb, weil für die Software-Gestaltung die Berücksichtigung von Wissenschaft unabdingbar ist! Was heute noch paradigmatisch Design heißt, bedarf eigentlich nicht wirklich einer wissenschaftlichen Unterstützung. Dass man im zwanzigsten Jahrhundert Design an wissenschaftlichen Hochschulen unterrichtete, war ein Vorgriff auf das einundzwanzigste Jahrhundert. Der beste Vorgriff, den das Design je tun konnte.

 

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