Start

PARADOX Start

Susann Vihma

 

DESIGN SEMANTIK UND ÄSTHETIK

von Susann Vihma

(Übersetzung Wolfgang Jonas)

 

Es hat schon viele Versuche gegeben, den Begriff des Designs zu erweitern. Mein Ziel besteht in der Analyse der Bedeutung von Designprodukten, um die Entwurfsergebnisse zu verbessern. Das Essay beginnt mit einer Kritik der Konzeption von Produktsemantik, so wie sie in der jüngeren Vergangenheit dargestellt wurde. Es folgt eine Erweiterung des Designkonzepts über die Analyse von auf dem Markt befindlichen Produkten hinaus. Design wird aus einer interpretativen Perspektive konzipiert, wobei die Position des / der Interpretierenden bewusst berücksichtigt wird. Dies gründet sich weitgehend auf einen semiotischen Ansatz. Schließlich wird die Semantik des Designs in Richtung auf Ästhetik erweitert.

 

Der begriffliche Rahmen von Design

Ein Designprodukt kann als Ergebnis eines Designprozesses aufgefasst werden. Wenn Design in einem breiteren Sinne verstanden werden soll, dann muss das Konzept nach zwei Richtungen hin erweitert werden. Erstens können wir auf die Vorläufer des "Endprodukts" auf dem Markt (d.h. Skizzen und Modelle) schauen. Zweitens können wir auf das Produkt als im Gebrauch befindlich schauen, und schließlich als verbrauchtes Material. (1) Auf diese Weise wird das Produkt zu einer Phase im Prozess. Es wird in eine Reihe von Handlungen und Entscheidungen innerhalb dieses Prozesses eingereiht. Entsprechend ist der Rahmen von Design nicht auf das Planen eines Produkts beschränkt, welches dann in einem Laden ausgestellt und zum Gebrauch gekauft wird. Stattdessen erstreckt er sich rückwärts bis zum Beginn des Planungsprozesses und kann als Idee aufgefasst werden, die als Skizze konkretere Form bekommt (als etwas vage auf Papier umrissenes, als etwas, das eine Form empfängt). Diese Handlungen können in einem Designstudio und an einem Konferenztisch stattfinden, und viele Personen können an diesem Formierungsprozess teilnehmen. Die Erweiterung des Designrahmens schafft eine Verschiebung in den Analysen des Entwerfens, denn früher wurde die Betonung auf das Endprodukt im Markt gelegt. Designtheoretiker haben in letzter Zeit jedoch argumentiert, dass das Augenmerk vom Designprodukt auf den Prozess verschoben werden sollte. So etwa Klaus Krippendorff (2) und Wolfgang Jonas (3) in jeweils besonderer Weise; Alain Findeli hat den Begriff "projektorientiert" dem Prozessbegriff vorgezogen. (4)

Früher wurde Design als ein linearer Prozess definiert, der von der Problemdefinition bis zur optimalen Lösung fortschreitet. (5) Wenn wir uns die Schemata anschauen, die aus diesem Denken abgeleitet wurden, dann ist leicht zu sehen, dass die Orientierung und die Anstrengung des Designs auf einen Zielpunkt gerichtet sind, das Produkt, das sich weit weg vom Ausgangspunkt befindet. (6) Andere Typen von Ergebnissen als diejenigen, die unmittelbar dem entfernten Ende des Prozesses dienen, sind als bloße Skizzen, die in den Papierkorb geworfen werden, unterschätzt worden, als unrealistische Gedankenexperimente, Hirngespinste, Spielerei, Kunst, Fingerübungen, die nicht zu ernst genommen werden sollten. Der Raum für Design als kreative Arbeit ist sehr beschränkt gewesen.

Auch in der Designausbildung sind Ansätze benutzt worden, die eine zu restriktive Sicht von Entwerfen propagiert haben. Ein Beispiel ist die Anwendung der Informationstheorie, was eine populäre diskursive Praxis im Designkontext seit den 1950er Jahren gewesen ist. (7) Design als die Kommunikation von Information geht von der Annahme aus, dass es einen Sender, einen Empfänger und eine Nachricht gibt, wobei die Nachricht durch einen Kanal vom Sender zum Empfänger übertragen wird. Aus diesem Modell, das ich im Designkontext für irreführend halte, können leicht zwei Folgerungen gezogen werden. In dem Modell befindet sich der Sender (oft als Produzent oder Designer gesehen) dem Empfänger (welcher der Konsument oder Nutzer ist) gegenüber. Das Modell betont sowohl einen Widerspruch wie auch eine Distanz zwischen den beiden. Warum?

 

Eine Kritik der Produktsemantik

Klaus Krippendorffs Theorie zur Produktsemantik (8) ist für die weiteren Diskussionen bedeutsam, weil es sich dabei um einen der wenigen Versuche handelt, kohärente theoretische Grundlagen für Designanalysen zu schaffen. Deshalb verdient sie ein sorgfältiges Studium. Krippendorff zeigt, meiner Ansicht nach, klar auf einige wichtige Mängel der Designpraxis und ihrer Tradition. Die Vorstellung, dass Design eine grundlegende praktische Dimension besitzt, ist brauchbar, auch wenn der Vergleich mit der medizinischen Praxis ein wenig pompös erscheint. (9) Trotz der offensichtlichen Vorzüge seiner Überlegungen können für die weitere Argumentation einige kritische Anmerkungen gemacht werden.

Krippendorffs Ansatz ist eine Modifikation des informationstheoretischen Modells. (10) Seine grundlegende Anordnung ist die gleiche. Der Designer (Sender) erschafft und der Nutzer (Empfänger) reagiert auf etwas Empfangenes: der Designer schafft ein Artefakt, welches die versachlichte Bedeutung des Designers als Form verkörpert. Der Nutzer reagiert auf das Artefakt und versucht, seine Form zu verstehen und damit für sich eine Bedeutung herzustellen. (11) Produktsemantik, so Krippendorff, studiert die Beziehung zwischen der vom Designer geschaffenen Form und der Bedeutung, welche die Nutzer konstruieren (die keine Designer sind). Er betont das Interface als zentrales Problem für das Design.

 

Form Sprache

Einer von Krippendorffs meistgebrauchten Begriffen ist "Bedeutung" (meaning). Deshalb wäre es wichtig, zu klären, wie er Bedeutung versteht. (12) Aber er tut dies nicht. Ein gründliches Studium seiner Schriften erweist, dass seine Konzeption von "Bedeutung" eingeschränkt ist. Er stellt fest, dass Design sprachähnlich geworden sei und dass seine Objekte "Texte" seien (13), dass "people act not on physical qualities but on what they come to mean to them". (14) Er beschränkt Bedeutung auf die Ebene von Konzepten und Symbolen. Bedeutung wird in diskursiven Praktiken konstruiert. Aus dieser Position heraus kritisiert er (ohne jegliche Literaturangaben) das, was er als Semiotik bezeichnet.

Krippendorff behauptet, dass die Semiotik Bedeutungen als fixierte Korrelate der Form auffasse. (15) Diese Position bezeichnet jedoch gerade das Gegenteil der traditionellen Semiotik, wie sie etwa von dem amerikanischen Philosophen Charles S. Peirce diskutiert wird. Peirces Verständnis von Bedeutung beschränkt sich nicht nur auf Symbole (und Sprache). Zusätzlich zur Symbolproduktion kann Bedeutung ebenso unmittelbar und durch Kausalbeziehungen produziert werden. (16) Die physikalische Interaktion zwischen Personen und Artefakten trägt zur Bedeutung der Form bei. Diese Komplexität der Bedeutungskonstruktion ist unerlässlich für das Verständnis von Interaktionen, die mit Design zu tun haben.

Krippendorff behauptet, die Semiotik sehe Artefakte als Repräsentanten von Dingen, welche den Artefakten äußerlich sind. (17) Diese Formulierung ist irreführend. Wenn die Peircesche Semiotik Artefakte als Zeichen auffasst, dann beziehen sie sich auf etwas. Das Objekt, auf das Bezug genommen wird, befindet sich jedoch nicht irgendwo außerhalb des Produkts oder des Wahrnehmenden, sondern es residiert in deren Beziehung. Die Bezüge sind wirklich existent. Referenzrelationen, in der Semiotik einfach Zeichen genannt, agieren nicht als Substitute für die Wirklichkeit. Zeichen stellen Verbindungen her. Artefakte werden als Referenzen für Interpretationen aufgefasst und nehmen an diesen teil. Ein Artefakt trägt zu dem Prozess bei; es trägt als Zeichen Bedeutungen und Funktionen bei. Deshalb wird es nicht nur als passiver Klotz (block) aufgefasst.

Zeichenproduktion impliziert keinen spezifischen formalen Stil. Designer können im Gegenteil eine höhere Bewusstheit für mögliche Referenzrelationen und vielfältige stilistische Ergebnisse entwickeln. Eine Überbetonung der Expressivität der Form ist einfach kein gutes Design, wenn es die Interaktion negativ beeinflusst.

Krippendorff ist mit dem was er kritisieren will, nämlich der Semiotik, nicht vertraut. Dies wird auch deutlich in seiner Bemerkung, Semiotik sei etwas "that was fashionable in graphic design circles in the 1960s but abandoned a decade later". (18) In den letzten Jahren hat es Versuche gegeben, das gesamte Feld der Forschung über visuelle Interpretationen zu sichten, so etwa Bilder und Kunstobjekte, Plätze und Räume. Diese Übersichten von Göran Sonesson (19), Groupe µ und anderen (20), haben einen entscheidenden Einfluss auf Visual Studies.

 

Visuelle Scenarios im Design

Laut Wolfgang Jonas besteht das Ziel darin, "funktionale Konzepte" als alternative Scenarios zu entwerfen. (21) Design besteht aus einer Komplexität von Handlungen, die zu unterschiedlichen Strategien führen können, welche dann in Form visueller Scenarios illustriert werden können. Produkte sind bloße untergeordnete Details (Phasen im Prozess), wenn sie überhaupt gebraucht werden. Unterschiedliche Strategien haben divergierende Folgen, die in frühen Phasen des Planungsprozesses berücksichtigt werden. Scenarios umfassen das Ergebnis; sie visualisieren unterschiedliche Ergebnisse. Sie dienen auch als Argumente für Designalternativen. Mit Hilfe von Scenarios können Designergebnisse (22) schon frühzeitig im Prozess erkannt werden und nicht erst in der Zukunft (in der Hand eines entfernten Empfängers). Einem Designauftraggeber, etwa einer Gemeinde, einer Gesellschaft oder einem Unternehmen werden so Möglichkeiten gegeben, besser begründet zwischen verschiedenen Scenarios zu wählen.

 

Der Standpunkt bei der Interpretation (Position in interpretation)

Das Designprodukt kann nicht vom Prozess seiner Formierung getrennt werden. Es kann nicht von vorausgegangenen Ideen und vergleichbaren Objekten getrennt werden. Women's Studies haben, eine zeitlang, die Klärung der Position und Platzierung der Forscherin verlangt. Zu offensichtliche, universelle und dominante (und infolgedessen männliche) Perspektiven im wissenschaftlichen Schreiben sind kritisiert worden. (23) Auch im Design ist es wichtig, sich vor Fallen und Denkroutinen in Acht zu nehmen. Design kann nicht mehr als Ergebnis eines kreativen Genius akzeptiert werden. Die heroischen Beispiele der historischen Designpioniere werden heute anders betrachtet. Sowohl die Designer wie auch die "Meisterwerke" werden in den Kontext des alltäglichen Gebrauchs und der Herstellung gestellt, als Ergebnisse von Teamarbeit mit vielfältigen Beiträgen, wie in einem industriellen Produktentwicklungsprozess. Design wird in vielfältige kulturelle Kontexte gestellt, ihm werden ideologische und moralische Inhalte zugeordnet, entsprechend den sozialen Beziehungen und menschlichen Handlungsweisen. Das Bewusstsein für die Positionen, aus denen heraus interpretiert wird, hilft dem Design, das zu erreichen, wofür es gedacht ist.

Ein weiteres Thema auf dieser Argumentationslinie betrifft die Beziehung zwischen Personen und Artefakten.

 

Sichtbarkeit (visuality) und Form

Visuelle Qualitäten sind grundlegend für Design. Ein Designprodukt illustriert und verkörpert Qualitäten, in welchem Medium auch immer (als Skizzen, Fotos, räumliche Artefakte). Es ist deshalb wichtig zu fragen, was jemand bei der Betrachtung eines Dings wahrnimmt. Dort ist zum einen das materielle Ding, sei es ein Produkt oder ein Bild (ein Ereignis) auf einem Computermonitor. Hinzu kommen Referenzrelationen, die durch den interpretativen Akt (der Zeichenproduktion) hergestellt werden. Diese Kombination von Materialität und Interpretation der Erscheinung kann als "Form" bezeichnet werden. Form hat damit eine zweifache Bedeutung. Es ist sowohl eine materielle Konstruktion als auch etwas, das erfahren und interpretiert wird. (24)

Durch das Studieren der vielfältigen Referenzrelationen werden wir in die Lage versetzt, die Produktform zu beschreiben, ihre Qualitäten zu analysieren und ihre Bedeutungen zu begründen. Einer der Vorteile einer derartigen Analyse von Beziehungen besteht darin, dass Design in die Lage versetzt wird, sich tatsächlich mit visuellen Qualitäten zu befassen, anstatt Texte zu interpretieren. Ein weiterer Vorteil ist, dass sie verschiedene Weisen der Interpretation beleuchtet und die Interpretation nicht auf das bloß Symbolische beschränkt.

Wie kann eine Form mit Hilfe ihrer Bezüge / Verweise (references) charakterisiert werden? Was ist der Inhalt der Referenzen? Das Produkt kann als aktiv an der Interaktion teilnehmend aufgefasst werden, und im Kontext von Design scheint Form zum interpretativen Akt beizutragen. Formeindrücke können als mehrdeutig, impressiv, zurückhaltend, friedlich, rein, australisch, primitiv, exotisch, romantisch, traumhaft und so fort aufgefasst werden. Form kann als visuelle Metapher funktionieren. (25) Form kann auch Haltungen, Stimmungen, Gesten, Mimikry etc. ausdrücken. Eine Produktform übernimmt häufig Ausdrucksqualitäten von vertrauten Dingen wie Körperteilen, Haustieren, Blumen und Bäumen; Eine Form "zieht Gesichter", nimmt menschliche Posen ein, verbirgt ihr "Gesicht", wendet sich ab, wartet auf Aktion; sie kann stumm sein, geduldig, sie kann Emotionen verbergen; sie krabbelt, kriecht, greift und so weiter. Produktformen interagieren und funktionieren auch miteinander (und unterstützen dabei gleichzeitig den menschlichen Körper und seine Posen).

 

Andere Arten von Bezügen / Verweisen (references)

Eine Produktform kann sich als reale und konkrete Verbindung auf etwas beziehen, von dem sie hervorgebracht wurde. Dies erscheint dann als "brute force and hard fact", als Spuren des Gebrauchs, Geräusch und Geruch. Visuelle Spuren erscheinen als Ergebnisse der Herstellungswerkzeuge oder Produktionsmethoden und als Gebrauchsspuren, als Gravuren und Zeichen des Tragens, was sämtlich sowohl die materielle Form wie auch ihre Interpretation beeinflusst. (26) Designpublikationen übergehen jedoch üblicherweise Produkte mit Gebrauchsspuren. Nur neues Design wird abgebildet, oft sogar ohne jeglichen Nutzer.

Eine Referenzrelation kann tatsächlich durch die Form gefühlt werden, wie beispielsweise der Schmerz in der Hand beim Tragen eines schweren Dings mit einem zu dünnen Griff. Interpretation wird aktualisiert, wenn man eine Tür zuschlagen hört, einen Türgriff berührt, eine Textur spürt oder dergleichen.

Die dritte Art von Referenzrelation ist vielleicht die vertrauteste und meistgebrauchte, nämlich die Symbolische. Symbolische Zeichen müssen gelernt werden und können nicht vorgestellt oder im Voraus gewusst werden. Text, Zahlen, grafische Figuren, rituelle Objekte, Souvenirs und Dinge von bestimmter Farbe, die in Zeremonien und Gebräuchen eine Rolle spielen, verkörpern konventionelle Referenzen, Symbole genannt. Vorherrschend ist eine Mischung von alten und neuen Symbolen.

 

Erweiterte Bedeutung (Meaning diversified)

Eine Form, die Aufmerksamkeit erregt und interessant scheint, kann viele Charakteristiken aufweisen, wenn sie interpretiert wird. Interpretation bringt Referenzen in mehreren Ebenen und vielfältigen Facetten hervor. Die Wahrnehmungspsychologie als Disziplin bietet Wissen über die menschliche Wahrnehmung, aber dies reicht für das Studium von Referenzrelationen nicht aus. Bei der Untersuchung der Form im Design ist mehr beteiligt. Auch die technologische Forschung liefert keine Daten, die unsere Erforschung der Form und ihrer Interpretation weiter bringen. Die Technik betrachtet Design unter syntaktischen und materiellen Gesichtspunkten. Die Sozialwissenschaften, Studien der Kulturgeschichte und der Verbraucherforschung, Ergonomie und viele andere designnahe Disziplinen diskutieren pragmatische Dimensionen des Designs. Forschung, die hauptsächlich auf empirischen Daten basiert, scheint die referentiellen und interpretativen Qualitäten zu vernachlässigen, wenn sie den praktischen Nutzen von Design betont. Auf empirischer Forschung gründende Diskussionen müssen im Allgemeinen passen, wenn es um Vorstellungen geht wie individuelle Variationen im Stichprobenmaterial, persönliche Erfahrungen und Wechsel. Subjektive Bedeutungen wie Erzählungen, Träume, Tagträume, Erinnerungen, persönliche Geschichten haben keinen Platz. Empirische Forschung ist zu eifrig mit dem Sortieren von Tatsachen und dem Organisieren von praktischen Angelegenheiten beschäftigt. Traditionelles Design wird durch restriktives Brauchbarkeitsdenken behindert. Designprodukte spielen soziale Rollen in Entsprechung mit ihren Nutzern. Sie helfen dabei, Verhaltensweisen zu imitieren.

Konzeptuelles Denken im Design erfordert eine Öffnung und eine Haltung der Toleranz (d.h. mehr Freiraum zum Denken und Experimentieren). Ein solches Denken ist vielleicht in der Architektur gebräuchlicher, Designdenken kann dann davon profitieren. Design hat eine einschränkende Tradition, die sowohl aus seinem Handwerkserbe als auch aus jüngeren technologischen Zwängen der industriellen Massenproduktion herrühren.

 

Interpretation

Ein Designer kann über eine Skizze oder ein Modell auf der Grundlage von deren Referenzrelationen nachdenken. Die Erfahrungen anderer Menschen können sich mit der Interpretation des Designers verbinden und sich so gegenseitig beeinflussen. Musikalisch gesprochen, statt Unisono haben wir Polyphonie. Interpretation kann durch die Sichtweisen anderer bereichert werden. Es gibt nicht die eine korrekte vorgegebene Interpretation, die nur gefunden werden muss. Die hervorgebrachten Interpretationen können diskutiert und verglichen werden und man kann darüber Konsens herstellen. Vorteilhafte Merkmale in einem Entwurf können unterstützt und negative Bezüge können fallengelassen werden. Interpretation ist jedoch nicht stabil und kann nicht fixiert oder vollständig kontrolliert werden. Produkte können im Entwurf bewusst mit Bezügen versehen werden, aber das Design kann sich den vielfältigen Weisen der Interpretation (von Referenzrelationen) nicht entziehen. Sollten Designer besorgt sein, weil Interpretationen variieren und miteinander in Konflikt geraten können? Eine häufig gestellte Frage zum Problem divergierender Interpretationen ist: welche ist die beste? Der Frage liegt die Annahme zugrunde, dass es eine korrekte (und wahre) geben müsse und nicht viele mögliche Interpretationen. Anstatt das Dilemma des Konflikts zu betonen und als Ausrede für das Nichtreflektieren und Nichtdiskutieren der Form zu verwenden, sollten Designer nach Argumenten für die verschiedenen Präferenzen fragen. Eine derartige Argumentation trägt dazu bei, dem Design eine prominentere Rolle im Produktentwicklungsprozess zu verschaffen.

Wohlbekannte Formen und Modelle, wichtige Ereignisse, kulturelle Rituale, Festlichkeiten oder Katastrophen treiben die Interpretationen der Menschen in die gleiche Richtung und viele Menschen sehen das gleiche. Kulturelle Merkmale haben an der Interpretation teil und rahmen sie. (27) Die Position des Wahrnehmenden (Interpretierenden) scheint bei der Interpretation auf vielfache Weise an die Form gebunden zu sein. Form kann von oben betrachtet werden, von der Seite; die Sicht kann abtastend sein wie in einem Theater. Man kann fragen, wie nahe ein Betrachter der Form kommen kann und wie dominant seine Position sein kann. Und wenn die Position des Wahrnehmenden sich nicht zeigt, kann man fragen, wo dieser sich befindet. Interpretation zeigt die Art und Weise, wie der Betrachter die Form erfährt. Ein Teil der Interpretation ist auch mit der Rolle und dem "Habitus" des Betrachters verbunden. (28)

Manchmal mag es erscheinen, als sei Interpretation neutral, weil Forschung aus gründlicher Untersuchung besteht, wobei ein Forscher viel detailliertes Wissen aus unterschiedlichen Quellen sammelt und diese Daten erschöpfend sortiert. Eine semiotische Untersuchung stützt sich jedoch nicht nur auf solche beobachteten Fakten, sie enthält auch Werturteile. Wie gezeigt wurde, ist die Interpretation nicht neutral oder unabhängig von der Position des Beobachters und dem Kontext. Deshalb kann sie nicht von sozialen Werten getrennt werden. Sobald die Position des Beobachters in Betracht gezogen wird, ist es nicht mehr möglich, einem Gesichtspunkt zu entkommen, sich zu verstecken oder aus dem Dunkeln heraus zu sprechen oder seine Rede wie von einem Podium der Tatsächlichkeit (matter-of-factness ) herab zu neutralisieren.

 

Produktive Arbeit

Interpretation erfordert Anstrengung, sie ist produktive Arbeit, wie Umberto Eco es ausgedrückt hat. (29) Diese Konzeption wurde bereits von Peirce in seiner Diskussion zur Semiotik umrissen. Der dänische Forscher Svend Erik Larsen hat einen Begriff von Interpretation kritisiert, der diese auf die Dokumentation und Kategorisierung von Materialien beschränkt. (30) Eine bedeutungsvolle (meaningful) Interpretation ist produktiv und kreativ. Sie fügt der Wahrnehmung etwas hinzu und ist teilweise subjektiv. Sie verbindet mittels Referenzrelationen (als Zeichen) das gesehene Ding mit anderen Dingen und mit früher gesehenen Dingen. Form kann dann mehr Merkmale erwerben, als sie besitzt, wenn sie nur als materielle Struktur in einem historischen, sozialen oder technologischen Rahmen beschrieben wird.

 

Ein Abriss von Design Ästhetik

Eine Interpretation der Bezüge / Verweise (references) eines Produkts, eine semantische Analyse, hat nicht notwendigerweise mit Ästhetik zu tun. Die Frage, ob ein Produkt als schön und elegant angesehen wird, hat damit zu tun, worauf es sich bezieht. Deshalb ist es interessant, die Verbindungen von Semantik und Ästhetik im Design zu untersuchen. Da die Peircesche Semiotik ein fruchtbarer Ansatz zur Untersuchung semantischer Qualitäten zu sein scheint, ist es verlockend, seinen Gedanken zur Ästhetik weiter zu folgen. Wie konzipiert Peirce Ästhetik?

Peirce unterscheidet zwischen ästhetischem Gefühl (aesthetic feeling) und Wahrnehmungsurteil (perceptual judgment). Des weiteren unterscheidet er auch die emotionale Bewertung wie etwa Freude und Schmerz. (31) Freude und Schmerz sind sekundär, wie Symptome, wie Übergangsphasen (transitions). (32) Ästhetisches Gefühl zieht an oder stößt ab. Es ist eine Disposition / Veranlagung wie Aufgeschlossenheit in einem Kontinuum, zum Beispiel wenn man etwas bewundert, wenn man sich zurücklehnt und der Musik lauscht, wenn man auf etwas reagiert und sieht, wie das Ding einem ins Gesicht starrt.

Ästhetisches Gefühl ersetzt den geistigen Horizont (ken). (33) Es ist unmittelbar, mit anderen Gefühlen nicht zu vergleichen (34) und es kann nicht beschrieben oder analysiert werden. Der Organismus selbst denkt für eine Weile, ohne sich um dabei um Nachdenken / Reflektion zu kümmern. Der unbekannte Teil des Geistes spielt die Hauptrolle; es handelt sich nicht mehr um einen Sinneseindruck und noch nicht um einen Gedanken. Es ist eine bloße Tönung des Bewusstseins. (35) Es repräsentiert nichts. Es präsentiert. Das ästhetische Gefühl besitzt keine Referenzrelation.(36)

Nachträglich kann man versuchen sich zu erinnern, was passiert ist. Es ist vielleicht müßig zu versuchen, das ästhetische Gefühl selbst zu erinnern. Man mag eher an die Begleitumstände denken, welche das Gefühl umgaben und an die Dinge, die das Gefühl hervorgerufen haben und daran beteiligt waren. Die Verbindung beginnt sich zu entspannen (unwind) und mögliche Bezüge für die Analyse eröffnen sich. Aber dann sprechen wir nicht mehr über das ästhetische Gefühl. Wir sind zur semantischen Dimension mit all ihren besonderen Qualitäten gewechselt.

Ästhetisches Gefühl betrifft attraktive Vorstellungen. (37) "Schönheit", oder, um das griechische Wort zu benutzen, kalos, ist eine aktive Kraft, welche durch Spannung und Unbestimmtheit charakterisiert ist. (38) Peirce verwendete kalos, um Bewunderungswürdigkeit (etwas zu bewunderndes) als eine Qualität zu bezeichnen und nicht, wie im klassischen Denken, als eine formalistische Weise der Bezugnahme auf etwas Wohlproportioniertes und Harmonisches.

Ästhetisches Gefühl kann als persönliche Erfahrung stark sein, unvergesslich und bedeutend. Es kann überwältigend sein, bemerkenswert und faszinierend. Ästhetisches Gefühl kann aber auch weniger intensive Qualitäten umfassen, wie etwa alltägliches Vergnügen. Es versteht sich fast von selbst, dass ästhetisches Gefühl ein wichtiger Bestandteil des Designs ist. Das Gefühl als Disposition befindet sich jenseits unseres geistigen Horizonts, ist nicht analysierbar. Dennoch sprechen wir gerne darüber. Wir wollen über das Unsagbare sprechen. Dies ist paradox.

Ein Weg, mit dem Paradox zurechtzukommen besteht darin, Form als einen speziellen Fall von Referenzrelationen aufzufassen, als semantische Qualität, die vom ästhetischen Gefühl berührt und von diesem gerahmt wird. Das ästhetische Gefühl kann in Erinnerungen wieder eingeführt (re-entered) und wiederholt werden. Ein Designer kann Settings rekonstruieren oder neu entwerfen und Elemente kombinieren und variieren, um das Wiederauftauchen des ästhetischen Gefühls zu ermöglichen. Ein Designer entdeckt Ähnlichkeit und neue Unterschiede. (39) Die Wahrnehmung einer neuen Ordnung ist ein Anlass für Überraschungen. (40) Freude entsteht, wenn eine Verbindung geformt und durch Ähnlichkeit verstärkt wird (durch die Produktion ikonischer Zeichen). (41)

Ein Designer kann die Umwelt studieren, Verbindungselemente zwischen Räumen, Räume zwischen Räumen, Räume zwischen Dingen, Möbel und Materialien als Settings für ästhetisches Gefühl. Konkrete Produktformen sind an der Formation des Gefühls beteiligt. Hier wird erneut deutlich, dass Artefakte nicht bloße passive Klötze sind. Die Formen, welche Designer als Elemente in ihrem Plan verwenden, haben semantische Qualitäten angenommen, die im ästhetischen Gefühl eine Rolle spielen können.

 

 

Fußnoten

(1) Wenn man Designstudien in diese letztere Richtung verfolgt, dann tauchen die Probleme auf, mit denen sich "nachhaltiges Design" befasst.

(2) Krippendorff 1995, 152.

(3) Jonas 1995.

(4) Keynote speech auf der Konferenz No Guru, No Method? at UIAH Helsinki, 1996.

(5) Ausführlicher siehe, zum Beispiel, Design Awareness and Planned Creativity in Industry von L. Bruce Archer 1974, 9, 53; Design: Geschichte, Theorie und Praxis der Produktgestaltung von Bernhard E. Bürdek 1991, 164,170; éléments de design industriel von Danielle Quarante 1994, 360, 376. Krippendorff's zyklische Figur ist eine Modifikation der linearen horizontalen oder vertikalen Schemata (1989, 28).

(6) Es handelt sich um ein konkretes Ziel, ein Produkt. Auch wenn "System" als Ziel erwähnt wird, bedeutet dies ein Arrangement von konkreten Produkten.

(7) Siehe, zum Beispiel, ulm...Die Moral der gegenstände von Herbert Lindinger, 1987; Quarante 1994.

(8) Krippendorff präsentierte, zusammen mit Reinhart Butter, "Product Semantics" in innovation, Spring 1984. Siehe auch Krippendorff: On the Essential Contexts of Artifacts or on the Proposition that "Design Is Making Sense (of Things)", 1989.

(9) Krippendorff 1995, 141. In Finnland haben wir vor einer Weile sogar von "Designkliniken" gesprochen.

(10) Krippendorff 1989, 15.

(11) Es gibt zwei Bedeutungen: die des Designers und die des Nutzers. Krippendorff unterscheidet nicht zwischen den beiden oder erklärt, wie die Bedeutungen möglicherweise im Gegensatz zueinander stehen. Er führt nur wenige Beispiele an.

(12) "Bedeutung" hat viele Konnotationen in unterschiedlichen Kontexten, wie man spätestens seit Ogdens und Richards' Werk The meaning of meaning weiss und wie es auch in der philosophischen Literatur deutlich wird.

(13) ibid., 140.

(14) ibid., 152.

(15) ibid, 143.

(16) Als Icons beziehungsweise als Indizes.

(17) Krippendorff 1995, 148.

(18) Krippendorff 1995, 144. Semiotik hat eine zeitlang fruchtbare Ansätze zur Erforschung von Bedeutung und Signifikation geliefert. Semiotik wurde bereits in den 1950er Jahren im Design an der Ulmer Hochschule angewendet, und lange davor in den Kulturwissenschaften. An der Ulmer Hochschule hat Gui Bonsiepe in den 1960ern Werbung mit Hilfe eines semiotischen Ansatzes analysiert. Aber dies ist nur ein Beispiel semiotischer Anwendungen. Roland Barthes hat interessanterweise zur gleichen Zeit Bilder und viele andere Dinge analysiert. Heute gibt es viele Arten von Semiotik. Das Feld entwickelt sich und verbindet vielfältige Konzepte.

(19) Pictorial concepts, 1989.

(20) Siehe, zum Beispiel, Advances in Visual Semiotics hrsg. von Thomas A. Sebeok und Jean Umiker-Sebeok 1995.

(21) Jonas 1995, 51.

(22) oder 'Endprodukt', wenn man so will.

(23) Siehe, zum Beispiel, Vision & Difference von Griselda Pollock, 1988.

(24) Der semiotische Prozess der Zeichenproduktion, wie er besprochen wurde, kann vereinfacht aufgefasst werden als eine Interpretation von etwas, die sich auf etwas bezieht. Mit dem Konzept des Zeichens hat Charles Sanders Peirce Repräsentationsqualitäten und Signifikationsprozesse als Referenzrelationen diskutiert. Er stellte fest, dass es drei grundlegende Arten von Bezügen (relations) gibt: ikonisch, indexikalisch und symbolisch. Tatsächlich konstituieren sie Aspekte von Form. Alle drei Arten der Referenz funktionieren zusammen. Die aktuelle Interpretation mag jeweils einen der Aspekte betonen. Dann dominiert entweder das ikonische oder das indexikalische oder das symbolische Zeichen den interpretativen Akt. Diese von Peirce eingeführte Unterscheidung gehört zu seinen wichtigsten Beiträgen zur Analyse von visueller Form. Dies ist auch der Grund dafür, dass der Peircesche Ansatz für Designzwecke brauchbarer ist als etwa die französische linguistische Tradition der Zeichenkonzeption, die einen anderen Ausgangspunkt darstellt.

(25) Für interessante Literatur über Bilder und Metaphern, siehe Poetics of Space von Gaston Bachelard, 1958 (Übersetzung 1964). Eine visuelle Metapher sollte nicht mit einer schriftlichen Metapher verwechselt werden. Eine Form ist nicht notwendigerweise schnell, selbst wenn sie aussieht, als bewege sie sich schnell. Geschwindigkeit wird hier metaphorisch gesehen. In beiden Fällen kann man sie als schnell bezeichnen.

(26) Siehe Beispiele bei Chi und Stotz, 1995, 212-223.

(27) Johansen, 1993, 291.

(28) Siehe Distinction von Pierre Bourdieu 1986.

(29) Eco, 1979, 151.

(30) Larsen, 1994, 271-273.

(31) Ein Wahrnehmungsurteil kann zum Beispiel "dies sieht gut aus" lauten. Eine emotionale Bewertung zum Beispiel "Ich liebe das".

(32) CP 1.552; Barnouw, 1994, 169.

(33) CP 5.119

(34) CP 7.530

(35) Salabert, 1994, 209.

(36) Andere Konzepte, die eng mit dem "ästhetischen Gefühl", wie Peirce es diskutiert, verwandt sind, sind Erstheit (firstness) sowie das ikonische Zeichen. Das ästhetische Zeichen ist ein ästhetisches Ikon, eins das nicht-repräsentational ist. Für diejenigen Leser, die bereits mit der diagrammatischen Illustration des Zeichens vertraut sind, wird eine Modifikation der bekannten triadischen Figur aufschlussreich sein. Während eines ästhetischen Gefühls ist die Objektrelation R-O eingeschrumpft. Die Entfernung zwischen R und O im Dreieck hat sich fast auf Null reduziert. Das ästhetische Gefühl besitzt keine Repräsentation.

(37) CP 5.551

(38) CP 2.199; Kevelson, 1994, 216.

(39) Kevelson, 1994, 223.

(40) ibid., 228.

(41) CP 6.426

 

 

Bibliographie

Barnouw, Jeffrey:: The Place of Peirce's 'Esthetic' in his Thought and in the Tradition of Aesthetics. In: Parret, H.(ed.): Peirce and Value Theory. John Benjamins Publishing Company, Amsterdam, 1994, 155-178.

Chi, Immanuel Toshito und Stotz, Oliver: Spuren des Gebrauchs. Kunstforum, Bd. 130, Mai-Juli, 1995.

Eco, Umberto: A Theory of Semiotics. Indiana University Press, Bloomington, 1979.

Johansen, Jørgen Dines: Let sleeping signs lie: On signs, objects, and communication. Semiotica 97, 1993, 271-295.

Jonas, Wolfgang: Design Ethics and Systems Thinking - Reflections on Design in the '90s. In: Tahkokallio, P. and Vihma, S.(eds.): Design - Pleasure or Responsibility? Publication Series of the University of Art and Design Helsinki UIAH B 43, 1995, 42-53.

Kevelson, Roberta: The Mediating Role of 'Esthetics' in Charles S. Peirce's Semiotics. In: Parret, H.(ed.): Peirce and Value Theory. John Benjamins Publishing Company, Amsterdam, 1994, 215-228.

Krippendorff, Klaus: On the Essential Contexts of Artifacts or on the Proposition that "Design Is Making Sense (of Things)". Design Issues, vol V, No 2, Spring 1989.

Krippendorff, Klaus: Redesigning Design: An Invitation to a Responsible Future. In Tahkokallio, P. and Vihma, S. (eds.): Design - Pleasure or Responsibility? Publication Series of the University of Art and Design Helsinki UIAH B 43, 1995.

Larsen, Svend Erik: Representation and Intersemiosis. In: Parret, H.(ed.): Peirce and Value Theory. John Benjamins Publishing Company, Amsterdam, 1994, 255-276.

Peirce, Charles, S.: Collected Papers of Charles Sanders Peirce. vols.1-8. (Hartshorne, C., Weiss, P. and Burks, A.W. eds.) Harvard University Press, Cambridge, MA, 1931-1966. (References are to volumes and paragraphs, not to pages).

Salabert, Pere: Aesthetic Experience in Charles S. Peirce. In: Parret, H.(ed.): Peirce and Value Theory. John Benjamins Publishing Company, Amsterdam, 1994, 191-213.

Vihma, Susann: Products as Representations. A semiotic and aesthetic study of design products. Publication Series of the University of Art and Design Helsinki UIAH A 14, 1995.

Vihma, Susann: Ways of Interpreting Design. In: Strandman, P.(ed.): No Guru, No Method? Discussion on Art and Design Research. Publication Series of the University of Art and Design Helsinki UIAH B 55, Helsinki, 1998, 7-13.