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Hermann Sturm

 

DESIGN GRUNDLAGEN: EIN LIGHTNING FIELD

von Hermann Sturm

 

Vorbemerkung

Warum macht man etwas und nicht vielmehr nichts? Warum entwerfen Gestalter und auf welcher Grundlage?

Design ist eine Kunst, die sich nützlich macht.

Um diesen Anspruch einzulösen, entwerfen Designer. Von den Grundlagen des Entwerfens ist hier die Rede.

Entwerfen heißt Formgeben und ist ein Essential von Designprozessen überhaupt. Darin einbeschlossen sind Constraints der Zweckbestimmung im weitesten Sinne.

Design kann als eine Form der Rhetorik der Artefakte gedacht werden. Schon von daher legitimiert sich ein metaphorisches Sprechen über Design. Ich spreche nicht über sprechende Gegenstände. Ich spreche darüber, wie Design zur Sprache gebracht wird und zwar metaphorisch, d. h. in Bildern und Textfragmenten.

Sumpfige Grundlosigkeit voraussetzend nach Grundlagen für Design zu fragen ist bodenlos (c. f. das Einladungsstatement von Wolfgang Jonas). Aber Sümpfe kann man bekanntlich trocken legen. Hier also der Versuch mit einigen Pfählen.

 

1. Bildung als Sumpf für Wucherungen

Das Wort Bildung gebrauche ich hier in seiner altertümlichen Vagheit. Es bezeichnet ein Repertoire unterschiedlicher Wissensbestände, die in sich wohl strukturiert, im Ganzen aber nicht zielgerichtet sind und dahin und dorthin flottieren, ausufern, Inseln bilden können, ohne eine exakte Topografie als Grundlage zu haben. Ihr Reichtum besteht in den vielfältigen Verknüpfungsmöglichkeiten der sie bildenden homogenen und heterogenen Elemente. Dafür soll das erste Bild stehen.

 

1. Bild: Eine marmorierte Seite.

Die marmorierte Seite in Laurence Sternes Roman Tristram Shandy (1713-1768) wird vom Autor so eingeführt: "Lies, lies, lies, lies, mein ungelehrter Leser, lies! Oder, bei der Gelehrsamkeit des großen Heiligen Paraleipomenon, ich sage es dir vorher, du tätest gut daran, das Buch gleich in die Ecke zu werfen. Denn ohne große Belesenheit, worunter ich, ... große Gelehrsamkeit verstehe, werden Sie ebensowenig imstande sein, die Moral der folgenden marmorierten Seite (ein buntes Sinnbild meines Werkes!) zu erfassen, wie die Welt mit all ihrem Scharfsinn imstande gewesen ist, die vielen Meinungen, Abhandlungen und Wahrheiten zu enthüllen, welche noch immer unter dem dunklen Schleier der schwarzen Seite mystisch verborgen liegen."

Nehmen wir die marmorierte Seite als Metapher einer Dimension von Bildung, so zeigt sie zunächst auf das Material der Natur in seinen vielfältigen Ausformungen. Andererseits ist die Seite im Buch ein Zeichen für den Naturstoff und darüberhinaus ein Zeichen für das Werk ­ "ein buntes Sinnbild" ­ ein Kunstprodukt also: Kunstmarmor. Kunstmarmor ist ein Produkt hoher Artifizialität. Die Säule, die Inkrustation, kunstvoll hergestellte Materialität, war genau deshalb kostbarer und daher teurer, als der in der Natur gebrochene Marmor. Nicht selten waren dem Kunstmarmor nicht sofort erkennbare, verborgene Muster oder gar Bilder eingeschrieben.

Die Wege, die Figuren im Text, gilt es aufzuspüren, Lücken (Paralipomena) zu füllen durch Einbildungskraft und Bildungskraft. Zwei altertümlich anmutende Begriffe bezeichnen diesen Sachverhalt, aber wir brauchen nur den folgenden Text von Jean Paul aus seiner Vorschule der Ästhetik, seine Form und seinen Inhalt in gegenwärtiges Sprechen zu transferieren.

"Stufenfolge poetischer Kräfte

§ 6

Einbildungskraft

Einbildungskraft ist die Prose der Bildungskraft oder Phantasie. Sie ist nichts als eine potenzierte hellfarbigere Erinnerung, welche auch die Tiere haben, weil sie träumen und weil sie fürchten. Ihre Bilder sind nur zugeflogne Abbildungen von der wirklichen Welt; Fieber, Nervenschwäche, Getränke können diese Bilder so verdicken und beleiben, daß sie aus der innern Welt in die äußere treten und darin zu Leibern erstarren.

§ 7

Bildungskraft oder Phantasie

Aber etwas Höheres ist die Phantasie oder Bildungskraft, sie ist die Welt-Seele der Seele und der Elementargeist der übrigen Kräfte; darum kann eine große Phantasie zwar in die Richtungen einzelner Kräfte, z. B. des Witzes, des Scharfsinns u.s.w., abgegeben und abgeleitet werden, aber keine dieser Kräfte lässet sich zur Phantasie erweitern. Wenn der Witz das spielende Anagramm der Natur ist: so ist die Phantasie das Hieroglyphen-Alphabet derselben, wovon sie mit wenigen Bildern ausgesprochen wird. Die Phantasie macht alle Teile zum Ganzen ­ statt daß die übrigen Kräfte und die Erfahrung aus dem Naturbuche nur Blätter reißen ­ und alle Weltteile zu Welten, sie totalisiert alles, auch das unendliche All; daher tritt in ihr Reich der poetische Optimismus, die Schönheit der Gestalten, die es bewohnen, und die Freiheit, womit in ihrem Äther die Wesen wie die Sonne gehen. Sie führt gleichsam das Absolute und das Unendliche der Vernunft näher und anschaulicher vor den sterblichen Menschen. Daher braucht sie soviel Zukunft und so viel Vergangenheit, ihre beiden Schöpfung-Ewigkeiten, weil keine andere Zeit unendlich oder zu einem Ganzen werden kann; nicht aus einem Zimmer voll Luft, sondern erst aus der ganzen Höhe der Luftsäule kann das Ätherblau eines Himmels geschaffen werden."

 

2. Bild: Die schwarze Fläche

Gelehrsamkeit auf Grund von Belesenheit sind Voraussetzungen für den Leser, den Text zu gebrauchen. "Denn ohne große Belesenheit" worunter "große Gelehrsamkeit "zu verstehen sei, würde uns auch Wesentliches "unter dem dunklen Schleier der schwarzen Seite" verborgen bleiben. Die Opazität der schwarzen Oberfläche verdeckt aber auch als dunkler Spiegel den morastischen Sumpf der Grundlosigkeit.

Mit dem Schwarzen Quadrat auf weißem Grund erhoffte sich Kasimir Malewitsch sogar den Sieg über die Sonne.

 

2. Lightning Field als Ort für Einschläge

 

3. Bild: Lightning Field

Ein Lightning Field hat Walter de Maria auf einem Steppenplateau 180 Meilen südwestlich von Albuquerque in New Mexiko installiert. Es besteht aus 400 hochglanzpolierten Stahlstäben (Ø 5 cm) mit scharfer Spitze. Die Stäbe sind im Abstand von 67 Metern als Rechteck von einer Meile mal einem Kilometer in Ost-West-Richtung im Steppenboden verankert. Zum Lightning Field wird es in gewitterreichen Jahreszeiten, wenn die Stahlspitzen "die Blitze wie Elmsfeuer auffangen und leiten." (Günter Metken)

Flashes of Consciousness nennt Gertrude Stein jene Fähigkeit des Bewußtseins, wenn Geistesblitze das assoziative Schreiben erhellen. Blitz und Augenblick, Blitz und ästhetischer Augenblick, wo ist die Verbindung, was erhellt die Metapher vom Blitz? Die Dauer der Erscheinung eines Blitzes am Himmel kann wohl gemessen, als Zeitstrecke festgestellt werden, für unsere Wahrnehmung ist es eine Erfahrung zeitloser Plötzlichkeit, ein Augenblick, vor dem und in dem wir nicht selten sogar die Augen schließen. Nun ist es gerade diese Metapher, die in den Texten erscheint, die kreatives Vermögen zu erschließen sich mühen. Die Lektüre solcher Texte führt zu der Hypothese, dass der Begriff des Augenblicks durch die Form des abduktiven Schließens, der Abduktion, wie sie von Charles Sanders Peirce entwickelt und dargelegt wurde, an entscheidenden Stellen gefasst ist.

Man könnte zunächst von einem intuitiven Moment als Charakteristikum des Prozesses der Abduktion sprechen. Das heißt, gesprochen wird davon, daß die Kette von Empfinden, Wahrnehmen, Denken, Handeln im Begriff der Intuition zusammengeschlossen werden kann. Ch. S. Peirce hat auf diese Nähe zur Abduktion verwiesen, denn: "Die abduktive Vermutung (suggestion) kommt uns wie ein Blitz. Sie ist ein Akt der Einsicht, obwohl extrem fehlbarer Einsicht. Zwar waren die verschiedenen Elemente der Hypothese schon vorher in unserem Verstande; aber erst die Idee, das zusammenzubringen, welches zusammenzubringen wir vorher uns nicht hätten träumen lassen, läßt die neu eingegebene Vermutung vor unserer Betrachtung aufblitzen.

Das Wahrnehmungsurteil seinerseits ist das Resultat eines Prozesses, der nicht genügend bewußt ist, um kontrolliert zu werden, oder, um es richtiger festzustellen, der nicht kontrollierbar und infolge dessen nicht völlig bewußt ist. Wenn wir diesen unbewußten Prozeß einer logischen Analyse unterwerfen würden, so würden wir finden, daß er in dem endet, was jene Analyse als einen abduktiven Schluß repräsentieren würde, der auf dem Resultat eines ähnlichen Prozesses aufbaut, den eine logische Analyse als durch einen ähnlichen abduktiven Schluß beendet repräsentieren würde und so weiter ad infinitum. (Ch.S. Peirce, Schriften II, Vom Pragmatismus zum Pragmatizismus, hrsg. v. K. O. Apel, Frankfurt/M., 1970, S.366)

Dasjenige, was uns im Akt der Einsicht, dem abduktiven Schluß - im ästhetischen Augenblick sage ich - wie ein Blitz trifft, unterscheidet sich vom Wahrnehmungsurteil darin, daß er logischer Kritik nicht zugänglich ist. (Thomas, A. Seboek, Jean Uniker-Seboek: 'Du kennst meine Methode', Charles Sanders Peirce und Sherlock Holmes, Frankfurt/M., 1982, S. 37)

Selbst unter strategischen Gesichtspunkten scheint das abduktive Schließen bedeutsam. So stellt bereits Carl Philipp Gottfried von Clausewitz in seiner Schrift Vom Kriege (1832-34) fest: "Hier verläßt also die Tätigkeit des Verstandes das Gebiet der strengen Wissenschaft, der Logik und Mathematik, und wird, im weiten Verstande des Wortes, zur Kunst, d.h. zu der Fertigkeit, aus der unübersehbaren Menge von Gegenständen und Verhältnissen die wichtigsten und entschiedensten durch den Takt des Urteils herauszufinden. ... Was hier von höheren Geisteskräften gefordert wird, ist Einheit und Urteil, zu einem wunderbaren Geistesblitz gesteigert, der in seinem Fluge tausend halbdunkle Vorstellungen berührt und beseitigt, welche ein gewöhnlicher Verstand erst mühsam ans Licht ziehen und an denen er sich erschöpfen würde."

Damit sind essentielle Momente dessen beschrieben, was auch den Begriff des ästhetischen Augenblicks charakterisiert. Nicht aber kann umgekehrt der handlungsleitende und handlungsanweisende Schluß gezogen werden, was zu tun sei, um die Bühne für ästhetische Augenblicke zu öffnen. Das Rätsel seiner apparition (Adorno) bleibt ungelöst.

Ein Lightning Field als Feld für Einschläge vertritt hier als Bild die Vorstellung, dass der kreative Akt, dass Entwerfen eines bereiteten Bodens bedarf, der strukturierter ist als es das Bild vom grundlosen Sumpf nahe legt, um Blitzeinschläge als flashes of consciousness zu provozieren.

"Der Zufall begünstigt nur einen vorbereiteten Geist." (Louis Pasteur) Ob Blitze einschlagen, welche Stäbe sie treffen, ist ungewiss. Sicher aber ist, sie schlagen eher ein, wenn es diese Stäbe gibt.

Niklas Luhmann hat sich in einem Vortrag über den Zusammenhang von Zufall und Kreativität u. a. so geäußert: "Kreativität ist in vielen Hinsichten in ihren Effekten ein Zufallsprodukt." ... "In systemtheoretischer Terminologie nennt man Sachverhalte dieser Art auch Morphogenese oder Order from noise oder dissipative Strukturen. ... Man muß nicht von Einheit ausgehen und nicht nach Einheit fragen, sondern sich für Differenzbegriffe interessieren. Kreativität ist der Effekt von Grenzen oder von Diskontinuitäten. Es kommt auf die Differenz von Zufall und Struktur an." (in: FAZ, 10. 06. 87)

 

3. Design-Methoden wirken wie Blitzableiter

 

4. Bild: Blitzableiter

"Die Menschen werden vom Blitz getroffen und ihre Häuser angezündet, weil sie es nicht anders haben wollten. Was die Ursache hiervon ist: Knauserei, Leichtsinn, Unwissenheit oder sonst etwas, darum haben wir uns hier nicht zu bekümmern." So ereiferte sich Georg Christoph Lichtenberg 1795 und schlägt deshalb die Einführung von Blitzableitern vor, um Abhilfe zu schaffen und Sicherheit zu gewährleisten.

Minimierung von Risiken, Erhöhung der Sicherheit durch Technik und Formgebung ist ein Ziel von Designprozessen. Je rigider die Strategien ausgebildet und das heißt, unerwünschte Abweichungen und riskante Momente ausgeblendet werden ­ was der Strategie der Fehlervermeidung folgt ­ umso geringer sind die kreativen Spielräume und die provokanten Herausforderungen.

 

5. Bild: Hybride Gebilde

Die Strategie zur Optimierung einer erdachten und vorgestellt erwünschten Multifunktionalität führt zu hypertrophen und hybriden Bastarden. (Jetzt wird ein Gerät angeboten, das Fax, Telefon, Anrufbeantworter, Rechner mit Internetzugang, Drucker, alles zugleich ist. Störung in einem Teil bewirkt den Ausfall des Ganzen; Qualität eines Teils geht zu Lasten eines anderen). Solche Bastarde erhöhen die Störanfälligkeit, werden zu Gadgets.

 

6. Bild: Wissenschaftsmaschine

Jonathan Swift gibt auf Gullivers dritter Reise, die ihn auf die Insel Laputa verschlägt, einen Bericht über Projekte verschiedener Professoren der dortigen Akademie. Voller Stolz und Hoffnung auf die Verbesserung der "spekulativen Wissenschaften" durch "praktische und mechanische Operationen" führt einer der Professoren eine Maschine vor. Sie besteht aus einem Rahmen, in dem auf Drähten aufgesteckte, mit einzelnen Wörtern "in den verschiedenen Modis, in Konjugationen und Deklinationen, jedoch ohne alle Ordnung, beklebte Würfel drehbar gelagert sind. Die Drehung der Kurbeln durch studentische Hilfskräfte verändert die Anordnung . Finden sich Wörter, die einen Satz bilden können, werden sie notiert und in Folianten gesammelt, in der Hoffnung, daraus "der Welt ein vollständiges System aller Wissenschaften und Künste" geben zu können.

Der Maschine liegt ein System zu Grunde, das auf der aleatorischen Generierung von Information beruht. Im stochastischen maschinellen Prozedere wird das Zufällige zum Kreationsschema. Ihr Programm führt zu beliebig vielen permutativen Lösungsangeboten, deren Brauchbarkeit als Lösung allerdings des Urteils einer peripheren Intelligenz bedarf.

 

7. Bild: Lösungsstrategien

Um zur Lösung eines Formproblems zu gelangen, bedarf es eines Repertoires, aus dem geschöpft wird, und es bedarf der die Komplexität reduzierenden Entscheidung. Diese Entscheidung kann als Sprung dargestellt werden, da sie nicht linear auf dem Weg ausschließlich deduzierenden Schließens hervorgebracht werden kann. Das lässt sich im Bild von Entwurfsmodellen als Lösungsstrategien vorstellen.

Gegeben sei ein Graben, ein Spalt oder dergleichen. An einem Ufer (A) steht der Designer (D) mit seinem Lösungsproblem; am anderen Ufer (B) befinden sich die Adressaten (Auftraggeber, Produzenten, Nutzer). Für den Designer besteht das Problem darin, den Graben zu überspringen; auf jeden Fall von (A) nach (B), also ans andere Ufer zu gelangen.

 

1. Die konventionelle Lösung

(D) versucht den Spalt zu verkleinern, das Sprungbrett zu verlängern. Er sammelt alle verfügbaren Daten, die er für entscheidungsrelevant hält. Je mehr Parameter zusammengetragen sind, für umso geringer wird das Risiko einer Fehlentscheidung, eines Absturzes, eines Flops gehalten.

2. Die artistische Lösung

(D) weiß, dass er springen muss und sucht nach einer eleganten Lösung. Er trägt seinen Entwurf ­ wie ein Artist auf dem Seil ­ über den Graben. Das Prozedere ist riskant. Vor einem Absturz ist er nicht gesichert. Das Gelingen ­ und das heißt, nicht nur (B) zu erreichen, sondern dies auf möglichst eindrucksvolle Weise ­ hängt von seiner Geschicklichkeit und von der Wahl der richtigen Balancierstangen ab.

3. Die hedonistische Lösung

(D) neigt zur artistischen Lösung. Er denkt an Pendelausschläge als Transportmodell, um von (A) nach (B) zu gelangen, gefällt sich aber im Schwingen und findet in der Vorführung selbst seine, auf ihn selbst bezogene und ihn selbst befriedigende Lösung ­ wie ein Bungee-Springer. Die Adressaten auf der anderen Seite sind verärgert oder fasziniert. Es ist keine Lösung für sie in Sicht, oder die Faszination an der Vorführung verdrängt das Problem.

4. Die virtuelle Lösung

(D) hat Swifts Maschine benutzt, um Lösungsalternativen zu generieren. Um nicht wirklich springen zu müssen, projiziert er seine Angebote von (A) nach (B) und nutzt dabei eine Technologie, die die Adressaten der (B)-Seite dergestalt involviert, dass sie das Wahrgenommene für wahr nehmen und sich in der angebotenen Bilderfülle ­ im Cyberspace ­ einrichten.

 

4. Design heißt Navigieren und ist eine arbiträre Prozedur

 

Wir sind wie der Surfer auf den Wellen. Er kontrolliert sie nicht, aber er kennt sie.

Rem Koolhaas

 

8. Bild: Nichtlineares Prozedere

Gerade Strecken, Kurven, Schleifen, Windungen und Spitzen bilden für Laurence Sterne anschauliche Modelle für sein Prozedere im Werk. Wir kehren damit auch zur marmorierten Seite unseres ersten Bildes zurück. Als Surfbrett gebrauche ich hier Überlegungen von Brian Massumi (Sensing The Virtual, Building The Insensible; in der Zeitschrift: Architectural Design, PROFILE, No. 133, 1998, S. 16-24).

Auch für Entwerfen scheint der Begriff des Virtuellen unvermeidbar geworden zu sein, wobei die an Bildschirmen realisierte Virtualität als virtual reality stets mitgedacht wird. Die Realität des Virtuellen, so Massumi, sei die Realität des Wechsels: the event. Daraus ergeben sich für das Entwerfen, das heißt das Entscheiden für bestimmte Formen für bestimmte Zwecke, Probleme. Wenn Virtualität Wechsel ist, dann kann sie nur in abstrakter Form figurieren, denn was konkret geblieben ist, ist, was es ist, und es ist nicht, was es sein wird, wenn es sich verändert. Das Potenzial einer Situation übersteigt den Zustand seines aktuellen So-Seins. Virtualität ist in keiner aktuellen Form von Dingen oder ihren Zuständen unmittelbar enthalten. Virtualität bewegt sich in Übergängen von einer Form zur anderen. Eine Antwort auf die damit für Design verbundenen Probleme sei ­ so Massumi ­ die Topologie. Seine Position ist, kurz zusammengefasst die folgende: Topologie hat Teil an der Kontinuität der Transformation. Sie absorbiert Formen in ihrer eigenen Variation. Die Variation ist begrenzt durch statische Formen, die an ihrem Anfang und an ihrem Ende stehen, sie kann an jedem Punkt unterbrochen werden und wiederum statische Formen erzielen. Aber was dazwischen geschieht, ist der spezielle Bereich der Topologie. Die Variation von nahtlos zusammehängenden Formen hat Vorrang vor ihrer Separation. Eine Form (a still-standing form) ist ein Zeichen des Transitorischen, des Durchgangs durch einen Prozess. Das Zeichen bleibt Teil eines Zusammenhanges.

 

9. Bild: Genialer Schlag

Der Gestalter (Designer / Architekt) ist heute nicht mehr der kreative Agent, der seine Formen aus einem präexistenten, abstrakten, platonischen Raum, zu dem nur er einen inspirierten Zugang hat, bezieht, und die er dann kunstvoll in die banale Konkretheit des Alltags überträgt und sie so nobilitiert. Er verfolgt vielmehr Spuren in einem komplexen Feld, aus deren Virtualität er neue Formen herausschwemmt. ("New form is not conceived. It is coaxed out, flushed from its virtuality.")

 

10. Bild: Kreatives Navigieren

Der Computer wird nicht gebraucht, um präfigurierte Formen zu reproduzieren. Das zentrale Moment des topologischen Turns besteht darin, Katalysator des Neuen zu sein.

Der Computer wird zu einem Werkzeug von Unbestimmtheit im Designprozess, der so eine gewisse Autonomie gewinnt, Eigensinn entfaltet im Zusammenspiel mit den funktionalen Bestimmungen (constraints). Wie die constraints eingesetzt werden um zu interagieren, wird eine arbiträre Entscheidung des Gestalters sein, auf der Basis einer mehr oder weniger explizit entwickelten ästhetischen Orientierung, in die er die funktionalen Parameter des gewünschten Endproduktes mit einbezieht. Daraus resultiert ein permanenter Prozess, der beliebig oft unterbrochen und dessen Komponenten immer wieder neu geordnet werden können. Um aber zu einem Produkt zu gelangen, muß eine Wahl getroffen werden. Die Kunst des Gestalters dabei ist the art of the leap, um in meinem Bild zu bleiben, es ist die Kunst des Sprungs von (A) nach (B). Dafür passe ­ so Massumi ­ der alte und mißbrauchte Begriff der Intuition besser als Begriffe wie Arbitrarität, Freiheit, Inspiration oder Genialität. Intuition ist ein wirkliches Wechselspiel von Aktivitäten. "It is neither a touchy-feely dreamlike state nor an imposition from on high of form on matter, order on disorder. It is a pragmatic interplay of activities on a level." In anderen Worten, die Intuition ­ die Fähigkeit zur Abduktion, the art of the leap erweist sich als Fähigkeit "to extract a difference from a variation (a standing difference from a running variation)".

Auch der Begriff der Erfahrung wird hier von Massumi ins Spiel gebracht. Sie nämlich sei unsere virtuelle Realität. Es ist nicht etwas, das wir haben. "It is not something we have. It is a transformability that has us, and keeps on running with us no matter how hard we try to stand still and no matter how concretely we build. It is our continual variation. Our becoming. Our event: the lightning whose thunder we are (Hervorhebung H. S.).

Für unsere Erfahrung, für die ästhetische Erfahrung zumal, hat der Moment des Augenblicks und seine Fragilität gegenüber der Wahrnehmung des plötzlich zur Erscheinung Kommenden besondere Bedeutung. Wenn ich Formgeben als Navigieren ­ dafür war Bild 1 (die marmorierte Seite) mein Beispiel ­ und als arbiträre Prozedur verstehe, so bleibt noch immer die Frage nach der Qualität des Neuen als einem Ziel aller Anstrengung.

Niklas Luhmann hat in dem bereits zitierten Vortrag über Kreativität den Geniebegriff, wie er vom 17. bis zum 19. Jahrhundert inhaltlich bestimmt war, in drei Dimensionen charakterisiert: "In der Zeitdimension tritt es (das Genie) mit neuen Gedanken oder Werken auf. In der Sachdimension ist es bedeutend. In der Sozialdimension kommt es überraschend. Heute brauche man aber eine ganz andersartige Begrifflichkeit, "die sich von den traditionellen Merkmalen neu/bedeutend/überraschend löst. Denn diese Merkmale verweisen auf ein nachträgliches Erkennen, auf ein Sichdurchgesetzthaben, auf protokollierte Kreativität." Aus der Sicht der Systemtheorie handele es sich um eine "durchaus entmystifizierbare Angelegenheit, nämlich um die Fähigkeit zum Ausnutzen von Gelegenheiten; oder in anderer Formulierung: um die Verwendung von Zufällen zum Aufbau von Strukturen. Diese Fähigkeit wird in hochkomplexen, nicht mehr zentral koordinierbaren ('heterarchischen') Systemen wie Gehirnen oder Gesellschaften mit steigender Komplexität immer wichtiger."

Meine Antwort auf die Frage nach den Grundlagen des Designs als Grundlagen des Entwerfens überhaupt: Ein Repertoire als eine Struktur der Gleichzeitigkeit auszubilden, die stochastische Momente einschließt und Spurensuche provoziert, was auch bedeutet, die Materialien des Alten, vertraut Erscheinenden, mit anderen Augen zu durchqueren.

 

 

Der Autor:

Hermann Sturm, geboren am 28. Februar 1936, emeritiert am 1. März 2001.

Mehr: ikud.uni-essen.de