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Franz Liebl

 

DO PLACABO PRODUCTS DREAM OF ELECTRIC SHEEP?

ANNÄHERUNGEN AN "STRATEGISCHES DESIGN"

von Franz Liebl

 

Everybody Is A Designer?

Sich als interessierter Außenstehender mit Design zu beschäftigen, verschafft quasi zwangsläufig das Gefühl des Paradoxen: Denn nach längerer Betrachtung scheint plötzlich alles Design zu sein. Besonders auffällig wird dies beim vielzitierten Web-Design, unter dem man je nach Standpunkt das dahinterstehende Geschäftsmodell, die Datenorganisation, die Funktionalität (der Website), die Usability der Oberfläche oder deren graphisches Outfit verstehen mag (Lovink/Liebl 2001). Eines zeigt sich deutlich: Design bezieht sich auf alles, was gestaltbar ist; oder ­ in der Sprache einer entscheidungsorientierten Betriebswirtschaftslehre ­ auf alles, worüber entschieden werden kann. Daher kennt die Betriebswirtschaftslehre neben "Corporate Design" seit langem auch auch Begriffe und Konzepte wie "Business-Design" (Keen 1991), "Organizational Design" (Nystrom/Starbuck 1981) und "Work Design" (Oldham/Hackman 1980), sowie nicht zuletzt eine Tradition in der Strategieforschung, die Henry Mintzberg (1990) "Design School" nennt.

Erfindungsreich ist die Betriebswirtschaftslehre auch dort, wo es um quasi unsichtbare Produkte geht. Wo es keine physisch wahrnehmbaren Produkte gibt, bedarf es besonderer Inszenierungsleistungen, wenn trotzdem beim Kunden ein entsprechendes Erleben bzw. Erlebnis herbeigeführt werden soll. Ein zeitgemäßes "Service-Design" muß daher die Kontaktpunkte mit dem Kunden durch entsprechendes "Prozeß-Design" inszenieren (Chase/Dasu 2001). Prozeß-Design wird auch dort wichtig, wo es gilt, nicht unmittelbar wahrnehmbare, aber aber als Differenzierungsmerkmal taugliche Produkteigenschaften (z. B. ökologisch oder politisch korrekte Produktionsweisen) zu kommunizieren oder besondere Emotionen im Rahmen einer "Markenwelt" zum Tragen zu bringen. Das schließt ein, den Design-Prozeß selbst zum Thema zu machen und per "storytelling" (Liebl 2000a; Liebl/Rughase 2002) in die Produkt- oder Markenwelt zu integrieren. In Anlehnung an den tabasco®-Effekt (Götz 1999) könnte man bei dieser Form des Agenda-Setting auch von einem Design-Design sprechen.

Womit wir es hier zu tun haben, gehorcht dem, was Eugen Leitherer vor Jahren bei der Auftaktveranstaltung des Design-Zentrums München in Anspielung auf die Devise der dortigen "Neuen Sammlung" wie folgt formulierte: "Design ist keine »Kunst, die sich nützlich macht&laqno;. Design ist eine betriebswirtschaftliche Funktion." Und zwar, so muß man heute hinzufügen, eine ubiquitäre. Denn wo alles als gestaltbar erkannt wird, wird auch schließlich alles als Design(-Entscheidung/-Leistung) wahrgenommen bzw. interpretiert (Schulze 1992). Design ist also in der Betriebswirtschaftslehre zu einer Art universeller "kultureller Metapher" (Gannon 2001; siehe auch Balkin 1998) geworden, die ihre analytische Kraft weitgehend eingebüßt hat. Offenbar müssen andere Wege als die Betrachtung der diversen Bindestrich-Designs mit ihren vorwiegend funktional-operativen Aspekten gefunden werden, wenn man sich den Fundamenten und Zielsetzungen nähern möchte.

 

Intermezzo: OperationsResearch und Design

Hilft die betriebswirtschaftliche Perspektive folglich nicht weiter, wenn die Grundlagen des Design eruiert werden sollen? Doch. Die Diskussion um die konzeptionellen und theoretischen Design-Fundamente erinnert durchaus an die Grundsatzdiskussion, die seit vielen Jahren im Bereich des Operations Research geführt wird. Der Diskurs um Frage "Was ist Operations Research und zu welchem Ende wird es betrieben?" ähnelt weitgehend der obigen Situation. Das verwundert wenig, gilt doch Operations Research als die Disziplin, die sich mit dem Design von und den Entscheidungen und Problemlösungen in bezug auf Mensch-Maschine-Systeme befaßt (z. B. Hanssmann 1993; Ackoff/Gupta/Minas 1962). Was als Systems Research begonnen hatte, wurde sehr schnell in seinem Selbstverständnis zum Systems Design. Bereits ab 1974 sprach Ackoff von "Redesigning the Future" (1974) oder dem "Idealized Design" (1981) von Unternehmen und anderen Systemen großen Zuschnitts und hoher Komplexität. Damit trat die Idee des Zergliederns von Systemen in zu analysierende Einzelteile zurück zugunsten eines synthetisierenden Gesamtentwurfs, der ein System im Dienste seines Umsystems begreift. Ackoff (1997) wörtlich: "The first fundamental principle of systems thinking is that management should be directed at the interactions of parts and not the actions of parts taken separately." Wie eng die Verwandtschaft zwischen Operations Research und Design tatsächlich ist, läßt sich nicht nur oberflächlich an Dieter Rams' (2001) Aussage "Letzten Endes soll es Probleme lösen." ablesen, sondern auch an einem Vergleich zwischen Ackoffs synthetischem Planungs-Prozeß aus "Creating the Corporate Future" (1981) und Owens (1998) "Structured Planning Process" der Produktentwicklung erkennen, in welchem Metaplanning, Planning und Designing miteinander verwoben sind. Neben den auffälligen Isomorphien wird auch deutlich, daß beide sich von den operativen Fragen lösen und das Design mit der strategischen Ebene koppeln.

Damit liegt uns ein neuer Ansatzpunkt zur Fundierung des Design vor. Denn möglicherweise erfahren wir mehr über die Grundlagen des Design, wenn wir es aus der strategischen Perspektive betrachten ­ mit anderen Worten: wenn wir die Frage nach dem "Strategischen Design" stellen. Nutzen wir hierzu, angesichts der vielfältigen Querverbindungen zwischen Operations Research und Design, zunächst die Erkenntnisse aus dem Bereich des "Strategic OR". Was also heißt Strategic OR? ­ eine Frage, die erst seit wenigen Jahren im Diskurs des Operations Research aufgekommen ist. Zwei Strömungen lassen sich hierzu identifizieren, eine instrumentale und eine prozessuale. Diese sollen im folgenden erläutert werden.

 

Der instrumentale Zugriff

Die erste, instrumentale, Auffassung fragt nach den Ergebnissen. Man spricht also von Strategic OR, wenn durch die Anwendung von quantitativen Verfahren des Operations Research ein Unternehmen in die Lage versetzt wird, nachhaltige Wettbewerbsvorteile zu erzielen, d. h. Kostenvorteile oder Differenzierungsvorteile (Bell 1999). Zahlreiche Beispiele sind in diesem Zusammenhang indes nicht verbürgt. Gern genannt werden als Beispiele Fluggesellschaften, die durch quantitative Optimierungen im Bereich der Preisbestimmung gewinnoptimale Auslastungen ihrer Maschinen erzielen ("Yield-Management"). Überhaupt scheint es paradox, daß es Unternehmen gelingen solle, durch Optimierungen der operativen Effizienz nachhaltige Unterscheidungskraft im Wettbewerb herzustellen ­ eine Tatsache, die bei Porter (1996) auch massiv in Frage gestellt wird.

Analog würde also "Strategic Design" bedeuten, mit Design Kosten- oder Differenzierungsvorteile zu erzielen. Beides scheint plausibel. Insbesondere auf der Kostenseite wurde schon in den späten 80er Jahren bei der Diskussion um Simultaneous Engineering und Target Costing im R&D-Bereich erkannt, daß in der Entwurfs- und Konstruktionsphase bereits gut 80% der späteren Herstellungskosten eines Produktes determiniert werden (Glück 1995; Bergauer 1994). Weniger gut bzw. systematisch empirisch abgesichert ­ wenngleich durch zahlreiche anekdotische Evidenzen unterlegt und intuitiv plausibel ­ ist die Unterscheidungskraft, die durch bessere Funktionalität und besseres Aussehen zustandekommt. Doch ganz analog gilt hier: Wenn dieses instrumentale Verständnis von strategischem Design zum Zuge kommt, ist der Wettbewerbsvorteil nicht nachhaltig, da sowohl das Wissen über Entwicklungs- und Konstruktionsprozesse erfahrungsgemäß schnell diffundiert als auch Elemente der äußeren Gestaltung einfach zu kopieren sind, wie etwa das Beispiel transluzenter Kunststoffe im Segment der Personal Computer deutlich zeigt.

 

Der prozessuale Zugriff

Die zweite, prozessuale, Auffassung von Strategic OR erscheint daher schlüssiger. Sie fragt primär nach der Rolle bzw. dem Beitrag, den die Anwendung von Operations Research im Prozeß der Strategie-Entwicklung einnehmen kann. Für das Operations Research kommen hier vor allem die Problemstrukturierungs-Methoden des Soft OR zum Tragen, die helfen, strategische Issues und die Sicht der Beteiligten auf diese Issues zu repräsentieren und zu analysieren. Indem ein Issue ­ ein Problem, eine Streitfrage ­ als persönliches Konstrukt bzw. als Interpretation repräsentiert wird, wird es nicht nur transparent, sondern auch verhandelbar. Neuere Anwendungsformen der kognitiven Kartierung stellen insbesondere auf Aspekte des strategischen Marketing ab. Hierzu gehören insbesondere die Repräsentation von sozio-kulturellen Trends (Liebl 2000b), von Vorstellungswelten der Kunden (Rughase 2001; Liebl/Rughase 2002) und von Markenbildern der Konsumenten (Herrmann 1999) ­ ein interpretativer Zugang zum Kunden, der sich maßgeblich von der quasi-objektiven, essentialistisch orientierten Marktforschung mit standardisierten Erhebungsverfahren unterscheidet. Dieser Zugang zur Generierung strategisch relevanter Informationen ist erforderlich, weil in der Regel Kunden nicht in der Lage sind, zu artikulieren, was denn Ihre konkreten Anforderungen an ein Produkt sind. Und selbst die in Fokusgruppen durchgeführten Produkttests geben aller Erfahrung nach wenig Hinweise auf die tatsächlichen Erfolgs- oder Mißerfolgschancen eines Produkts. Was sich jedoch durch den interpretativen Zugang ermitteln läßt, sind Andockstellen, die sich von Marketingkonzepten nutzen lassen. Diese Form des im strategischen Kontext genutzten Operations Research nimmt dessen ursprüngliches Selbstverständnis als interdisziplinärem ­ ja strenggenommen anti-disziplinärem (vgl. hierzu die Aussage von Ackoff (1994), daß Operations Research keine Disziplin sei) ­ Arbeiten ernst und treibt es voran in Richtung Ethnographie und Anthropologie. Denn letztens ist der Kunde nichts anderes für ein Unternehmen als ein fremder Volksstamm, dessen Kultur ­ Lebensumstände, Rituale, Verhaltensmuster und Bedeutungszuweisungen ­ es zu verstehen gilt.

Fragt man nun nach etwaigen Analogien im Bereich Design, so offenbaren sich auch hier auffällige Parallelen. Ein zum "Strategic OR" analoges Verständnis von "Strategic Design" würde also in einer prozessualen Logik die Rolle des Design in strategischen Kontexten ­ und besonders für die Strategie-Entwicklung ­ thematisieren. Genau das ist auch der Fall. So betont Renault-Chef-Designer Le Quément, daß die Entwicklung von Modell-Konzepten wie Scénic und Avantime gerade nicht von Ergebnissen der Marktforschung geleitet sei. Nach seiner Aussage sei es nicht möglich, zu innovativen Konzepten zu gelangen, indem man Konsumenten fragt, was sie denn wollten. Vielmehr gehe es darum, dem Kunden etwas zu geben, von dem er zwar nie wußte, daß er es suchte, aber von dem er sagt, daß er es schon immer wollte, wenn er es schließlich bekommt (Büschemann1999). Die Aufgabe des Design besteht unter Bedingungen hoher Unsicherheit also nicht so sehr darin, ein Problem genau zu analysieren um daraus eine Lösung zu entwickeln; vielmehr gehe es darum, die neue Situation zu interpretieren, wie vor allem auch in der Arbeit von Lester/Piore/Malek (1998) vertreten wird. Die Autoren heben hervor, daß General Management im allgemeinen und die Strategie-Entwicklung im speziellen von dem interpretativen Zugriff des Design nachhaltig lernen kann. Kurz gesagt besteht die Quintessenz von Strategie besteht darin, permanent Interpretations- bzw. Re-Interpretations-Prozesse im Unternehmen in Gang zu haben. In bezug auf die Outside-in-Perspektive, also in bezug auf das Umfeld, heißt das, Umfeldinformationen (z. B. über Kunden, Trends etc.) laufend einer Neuinterpretation zu unterziehen, um Andockstellen für neue Möglichkeiten der Produktgestaltung, für Szenarien und Unternehmenskommunikation zu eruieren. Mit welchen (unerwarteten) Bedeutungen werden Produkte vom Verwender belegt und wie werden sie zweckentfremdet lauten zwei der wichtigsten Kernfragen, immer eingedenk der Erkenntnis von de Certeau (1988), daß der Prozeß der Konsumtion eigentlich einen nachgelagerten Produktionsprozeß verkörpert (siehe hierzu auch Liebl 2001a). In bezug auf die Inside-out-Perspektive heißt das dagegen, die eigenen Kompetenzen und Ressourcen einer permanenten Neuinterpretation zu unterziehen, um frühzeitig veränderten Umfeldbedingungen adäquat Rechnung tragen zu können. Adaption ("adaptation"), also die einer Veränderung nachgelagerte Anpassung, ist ein viel zu träger Mechanismus, als daß er in Zeiten eines time-based competition eine sinnvolle Vorgehensweise sein könnte. Die permanente Reinterpretation der eigenen Ressourcen und Kompetenzen dagegen versucht konsequent, das bereits vorhandene so umzudeuten, daß es auch in ganz anderen Kontexten zielführend verwendet werden kann. Das entspricht der Logik der Exaption ("exaptation"; Gould/Vrba 1982), die evolutionsbiologisch nachweisbar ist. Dort haben gerade die Gattungen erfolgreich Umfeldveränderungen überlebt, die sich nicht erst langwierig adaptieren mußten, sondern bereits über Features verfügten, die in ganz anderen Zusammenhängen entwickelt worden waren und nunmehr ­ in einer Art Umdeutung bzw. Zweckentfremdung ­ für diese neuen Verhältnisse zweckdienlich eingesetzt werden konnten. Beides zusammen, die Inside-out- und die Outside-in-Perspektive führen zu einem umfassenden "interpretive management", für welches das Design laut Lester/Piore/Malek (1998) eine maßgebliche Rolle spielen kann ­ und zwar vor allem durch die dem Designer eigenen interpretativen Zugriff. Strategisches Design ist dann gleichbedeutend mit dem Einsatz von Design-(Arbeits-)Prinzipien in strategischen Kontexten.

 

Interpretatives Vorgehen: Auf dem Weg zum strategischen Marktforschungs-Design

In besonderer Radikalität wird das interpretative Spiel und die daraus resultierende Einsicht über die Kultur der Verwender deutlich in den Placebo-Produkten von Dunne + Raby. Denn Fiona Raby und Anthony Dunnes gleichsam poetischer Zugriff auf Design stellt zugleich einen Zugriff auf die Lebenswelt der Verwender dar. Sie geben den Verwendern im Grunde so etwas wie "Unbekannte Design-Objekte" an die Hand, d. h. Objekte, die keinen konkreten praktischen Nutzen zu haben scheinen, zumindest keinen, wie wir ihn von konventionellen Geräten und Möbeln im Haushalt kennen. Wie also interpretieren Menschen Objekte für sich, die a priori unklaren und ungewöhnlichen Nutzen besitzen und in bezug auf ihren möglichen Umgang und ihre Zweckbestimmung noch undefiniert sind? Welche Zuschreibungen und Nutzungsformen werden letztlich hieraus resultieren?

Den Grundgedanken ihres radikal-interpretativen Spiels, das nicht auf die Bestätigung von vorgeprägten Urteilen, sondern auf das regelrecht ethnologische Entdecken ausgerichtet ist, formulieren Dunne + Raby (2001) wie folgt: "Electronic objects are not only 'smart'. They 'dream' thinking of them in terms of dreaminess rather than smartness opens them up to more interesting interpretations." Genau hierauf rekurrieren Dunne + Rabys sogenannte Placebo-Produkte. Diese erfüllen durchaus gewisse Funktionen; die meisten von ihnen reagieren auf elektromagnetische Strahlen, wie sie in zunehmendem Maße unsere Lebenssphären durchdringen und markieren. Diese Produkte sind also selbst elektronische Objekte und mit Sensorien ausgestattet, die uns Menschen weitestgehend abgehen ­ das macht sie so interessant. Wie gehen nun Menschen mit Gegenständen um, die Ihnen fremde Eigenschaften besitzen und die die unsichtbaren Architekturen des immer stärker elektronisch geprägten Lebens sichtbar machen? Denn eine geheime Welt von Strahlen umgibt die Fernsehgeräte, Videorekorder, Computer, Mobiltelefone und Mikrowellengeräte in unseren Wohnungen.

Unter den Entwürfen von Placebo-Produkten finden sich z. B.:

- ein Tisch mit rund zwei Dutzend Kompassen, die nach allen Richtungen ausschlagen, sobald elektronische Geräte wie etwa Mobiltelefone in ihre Nähe gehalten werden;

- ein Tisch mit GPS-Empfänger, der dem Benutzer auf einem Display seine aktuelle Position angibt ­ oder eben den Kommentar "Lost" meldet, wenn er kein Positions-Signal empfangen kann;

- der Nipple Chair, dessen Brustwarzen fangen zu vibrieren anfangen, wenn irgendwelche Strahlen durch den Oberkörper desjenigen dringen, der auf ihm sitzt;

- eine Leuchte, das Parasite Light, das wie ein Schmarotzer an den elektromagnetischen Feldern, von denen es umgeben, saugt und damit die Helligkeit der Lampe steuert;

- ein Electricity Drain Stool, der einen entlädt, wenn man nackt auf ihm sitzt;

- der Electro Draft Excluder, welcher als Schild vor elektromagnetischer Strahlung fungiert (Dunne/Raby 2001).

Was wie eine kuriose Form von Ausbeutung der diffusen Ängste vor Elektrosmog aussieht, geht in Wahrheit konzeptionell weit über solche Fragen hinaus und zielt auf das Kernproblem von Gestaltung, nämlich auf Wahrnehmung. Dunne + Raby formulieren es in einem Interview (Rahm 2001) wie folgt: "Wenn wir ein elektronisches Produkt ansehen, sehen wir nur einen kleinen Teil von dessen Strahlung, nämlich die, die in Frequenzbereichen auftritt, welche für das bloße Auge sichtbar sind. Wenn wir niederfrequente Strahlung sehen oder wahrnehmen könnten, würden für uns elektronische Objekte sehr viel anders aussehen. Ihre Grenzen würden sehr viel weiter in den Raum ausgreifen und sie und andere Objekte würden sich gegenseitig durchdringen, während sie bei den Frequenzen sichtbaren Lichts völlig voneinander separiert sind." Die Ansätze von Dunne + Raby bedeuten vor diesem Hintergrund, so resümiert Rahm (2001), eine Ausweitung der Design-Zone in de facto unsichtbare Bereiche hinein.

Diese Ausweitung geht einher mit erweiterten Möglichkeiten der Kundenerforschung, wie sie auch vom "Strategic OR" angestrebt werden ­ und eröffnet damit wesentliche strategische Perspektiven. Die beschriebenen Prototypen-Unikate wurden von Dunne + Raby anläßlich einer Ausstellung im Victoria & Albert Museum an Interessenten verteilt, die diese seltsamen Möbel/Gegenstände für mehrere Wochen adoptierten und mit zu sich nach Hause nahmen. Im Anschluß befragten die Designer die Verwender nach ihren Nutzungsformen, danach, welche Geschichten sie mit den Placebo-Produkten erlebt haben und welche Beziehung sie zu diesen Objekten entwickelten. Als besonders bemerkenswert wurde immer wieder von den Nutzern genannt, wie sehr sie das Verhalten des Objekts als Eigenleben empfanden. Ein großer Anteil sah nach kurzer Zeit das Placebo-Produkt als eine Art Haustier an, mit dem teilweise auch intensiv kommuniziert wurde. Anthony Dunne berichtet von Verwendern, die beim Nachhausekommen als erstes nachsahen, ob sich ihr GPS-Tisch denn "lost" oder "connected" fühlte. Und entsprechend schwer fiel es am Schluß vielen Nutzern, sich wieder von den eigensinnigen und manchmal gar widerspenstigen, aber eben liebgewonnenen Gegenständen zu trennen (Dunne/Raby 2001).

Weitere wichtige Bedeutungszuschreibungen, die im Laufe der Nutzungen emergierten und ins Bewußtsein gerieten, betreffen die Kategorisierung des Gegenstandes als Möbel oder Gadget ­ was massive Unterschiede im Nutzungsverhalten impliziert. Während nämlich eine Interpretation als Möbelstück zu langen Verweildauern im Haushalt führt, signalisiert eine Zuschreibung als "Gadget" deutlich Kurzlebigkeit und die Gefahr vorzeitiger Entsorgung ­ ungeachtet der tatsächlichen Produkteigenschaften und der technischen Lebensdauer (Dunne/Raby 2001).

Eine strategische Orientierung in bezug auf Innovationen und Produktentwicklung bedeutet also folgendes: Wer wissen will, wie Kunden Innovationen nutzen und interpretieren, braucht ein Verständnis davon, wie Verwender in einer terra incognita von Nutzung und Bedeutung für sich Orientierung gewinnen. Der Nutzer operiert, so schreibt Anthony Dunne (1999) in seinem Buch "Hertzian Tales", wie ein Protagonist im Film, der eine Erzählung, in diesem Fall seine eigene Erzählung, seine eigene Phantasie und Vorstellungswelt, zur Entfaltung bringt. In Analogie zur Filmgeschichte nennen Dunne + Raby daher ihren Ansatz "Design Noir". Sie beziehen diese Analogie auf "das Konzept des Anti-Helden und die Leute, die sich in einer düsteren Landschaft bewegen, immer entfremdet, nie richtig fähig zueinanderzufinden oder ins Schema zu passen, und immer gezwungen, mit Dilemmata und existentiellen Fragen zu kämpfen." In der vorliegenden Form wird das strategische Design nicht zuletzt auch zum strategischen Marktforschungs-Design.

In abgewandelter Form praktiziert Alessi ebenfalls ein solches strategisches Marktforschungs-Design. Firmeninhaber Alberto Alessi (2000) betont, daß sein Unternehmen ganz gezielt formal und funktional hochgradig experimentelle Produkte mit entsprechender Flopgefahr auf den Markt bringt. Aus der Gesamtschau der Flops und Erfolge scheint, so Alessi, die Grenze zwischen akzeptabel und nicht akzeptabel auf. Würde man dagegen nur Erfolge produzieren, hätte man plötzlich keine Idee mehr, wo sich diese Grenze aktuell befindet. Damit verlöre man jedoch die Fähigkeit, auch in Zukunft "cutting edge" zu sein. Extravagante Flops besitzen für Alessi also eine in bezug auf Markenführung und Produktentwicklung zentrale strategische Funktion, die weit über den sonst unterstellten reinen Imagetransfer hinausgeht. Daran sieht man, daß es oft unkonventioneller Wege bedarf, um zielführende und substantielle Trendinformationen zu erhalten und sich über die Disposition der Kundschaft zu orientieren.

 

Zusammenfassung: Strategisches Design als Cultural Hacking

Die Vorgehensweisen des "Strategic Design" von Alessi und Dunne + Raby haben vor allem eines gemeinsam. Es geht nicht so sehr darum, ein den Kundenwünschen möglichst angepaßtes Produkt zu gestalten, sondern um die subversive Exploration neuer kultureller Räume. Es geht um ein veritables "kulturelles Hacking" (Liebl 2001b), das über die Techniken des "Empathic Design" (Leonard/Rayport 1997) noch hinausgeht. Zum einen werden Produkte und Marken gehackt ­ mit dem Ziel, zu sehen, was schon vermittelbar ist und was derzeit noch zu weit geht ­ und was die Marke letztlich an Dehnung und Dislozierung aushält bzw. hergibt. Zum anderen wird der Kunde, seine Vorstellungswelt, seine Lebenwelt, seine Kultur gehackt. Damit werden bei den Kunden die Andockstellen erkundet, an die die Nutzungs- und Interpretationspotentiale von Innovationen anschließen können ­ die strategische Kernfrage überhaupt (Liebl 2001b; Liebl 2001c).

Die Metapher des kulturellen Hacking erscheint deswegen so besonders sinnfällig, weil es in direkter Anlehnung an die Welt der Computer und Datennetze die spielerische und explorative Nutzung von Kulturtechniken meint. Design, diese vom betriebswirtschaftlichen Denken sinnentleerte Metapher, wird dadurch mit neuem Leben gefüllt. Es ist zu fragen, ob überhaupt mehr geleistet werden kann. Denn Methoden lassen sich, so zeigt nicht zuletzt die jahrzehntelange Diskussion um die "Scientific Method" des Operations Research, nicht theoretisch beweisen, sondern nur anhand ihrer Leistungsfähigkeit ­ insbesondere ihrer Problemadäquanz und ihrer Fähigkeit, entscheidungsrelevante Informationen bereitzustellen ­ beurteilen.

 

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Biografisches

Franz Liebl, geb. 1960, 1981-1986 Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München; 1986-1994 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Systemforschung der Universität München, von 1990-1994 dort stellvertretender Institutsleiter; Promotion 1991, Habilitation im Fach Betriebswirtschaftslehre 1994 mit einer Arbeit über Strategische Früherkennung und Trendforschung. Von Oktober 1994-Oktober 1998 Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine und Quantitative Betriebswirtschaftslehre an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Witten/Herdecke. Seither dort Inhaber des Aral Stiftungslehrstuhls für Strategisches Marketing und Leiter des Competence Center Strategie&Marketing. Forschungsschwerpunkte: Strategisches Management, Issue-Management, Business-Design, sowie Marketing unter Bedingungen gesellschaftlicher Individualisierung. Seit 1983 Veröffentlichungen zu den Themen Jugendkultur, Subkultur und experimentelle Musik. Von 1982-1990 Inhaber eines Tonträger-Labels und -Vertriebs für experimentelle Musik. Seit 1982 Teilnahme an Mail-Art- und Mail-Music-Projekten; seit 1995 Aufführung von Theorie-Performances in der Reihe "Unbekannte Theorie-Objekte der Trendforschung". Seit 1998 regelmäßiger Kolumnist für die New-Economy-Magazine Econy und brand eins.