NBK Neuer Berliner Kunstverein 

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'body of the message'
Ortsbegehung No. 4
NBK Berlin 1998
curated by Inke Arns

espace  
espace image; espace mort; espace régénérateur; espace de temps 

Ralph Lindner zu Sandra Becker 

In vielen ihrer Arbeiten greift Sandra Becker eine Frage auf, die so alt ist, wie die Großstadt selbst: Wie lassen sich der urbane Raum und die urbane Natur des Menschen darstellen? Bereits Nadar, der Paris aus der Vogelperspektive fotografierte, indem er mit dem Ballon aufstieg, mußte einsehen, daß die Totale nur wenig Einsicht „in den ganzen moralischen Mechanismus dieser Welt" (1) bot. Auch der Flaneur, der zu Fuß die Orte des modernen Lebens aufsuchte, gelangte angesichts des beschleunigten strukturellen Wandels schnell an seine Grenzen. Heute ist es eine andere Logistik der Wahrnehmung, die den Blick organisiert. Ohne die legendäre Schildkröte, dieses Wunder an Langsamkeit, das noch die Zeitgenossen Charles Baudelaires auf ihren Wegen begleitete, dafür aber mit der Videokamera ausgerüstet, bewegt sich Sandra Becker im Untergrund der Stadt. Die Metro in Moskau und die Subway in New York - Wall Street, Berlin Alexanderplatz und Akasaka in Tokio - das sind nur einige der Orte an denen seit 1993 Arbeiten wie global departure, persona grata, Warteraum und jetzt auch metro scan entstanden. In Fotografien und Filmen, Videoinstallationen und Stills spürt Sandra Becker ihrem zentralen Thema nach: der Mobilität. 
 

 
Sandra Becker, Persona Grata 1-4 

Betrachtet man allein ihre Grundrisse, geben die U-Bahnen, Subways und Metros dieser Welt ein sehr unterschiedliches Bild ab. Das orthogonale Raster New Yorks hat das unterirdische Gesicht der Stadt genauso geprägt, wie die im ZickZackMuster geführte Subway Tokios auf die gewachsene Struktur der japanischen Metropole reagiert. Doch jenseits nationaler Eigenheiten basiert diese Form der Mobilität auf historischen Voraussetzungen, die über Ländergrenzen hinweg vergleichbar sind. So waren es beispielsweise militärische Überlegungen, die den Bau der St. Petersburger Metro beeinflußten, und das gilt nicht nur für Rußland. Vor allem aber die rasante industrielle Entwicklung und die breite Durchsetzung des monetären Wirtschaftssystems erforderte kurze Zugriffszeiten auf die Ressource Arbeitskraft. In der Ökonomisierung der Bewegung der Massen setzte sich die Industrialisierung des menschlichen Körpers durch neue Bürotechnik oder das Taylorsche Arbeitsmodell fort. Zeittakt der Züge und Stechuhr griffen fortan ineinander. Riesige Menschenströme werden seitdem tagtäglich bewegt, ohne daß der Klage über die damit einhergehende Anonymisierung noch viel Aufmerksamkeit geschenkt würde. Allenfalls die Enge in den Zügen, die Hitze auf den Bahnsteigen, kurz, mangelnder Komfort und die daraus resultierende Müdigkeit sind inzwischen zum literarischen Topos geworden. 

Indes sucht man seitens der Industrie die individuellen Einschränkungen zu minimieren, die den Tribut an eine mobile Gesellschaft ausmachen. Nicht allein transitorische Orte wie die Subways sollen großzügiger gestaltet werden, auch der Automobilhersteller Renault wirbt für sein Modell Espace mit dem Versprechen, einen Raum für sich allein zu haben, einen „beweglichen Raum, der uns mit sich fortnimmt. Alles wäre zur Hand, wir bräuchten nichts zu entbehren." (2) Und aus ähnlichen Gründen nennt eine französische Fluglinie ihren Sitz Espace 2000. Doch die neue Freiheit, die die Werbung verspricht, kann nicht darüber hinwegtäuschen, „daß wirtschaftliche Verhältnisse auf Räume und Körper wirken, sich in diesen abbilden" und gleichzeitig „durch soziale Handlungen, Beziehungsgeflechte, Geschlechterverhältnisse und gesellschaftliche und kulturelle Wertvorstellungen bestimmt sind." (3) 

An diesem Punkt setzt Sandra Becker an. Es ist eine Mobilität im Schnittpunkt zweier Perspektiven, die uns in ihren Bildern begegnet: einerseits die Bewegung von Menschen unter Maßgabe der physikalischen Zeit, andererseits die subjektive Erfahrung des Einzelnen, der sich zwischen A und B befindet. Während in der ersten Perspektive der Akzent auf das logistische Problem der Bewegung von Arbeitskräften und damit auf ökonomische Zusammenhänge gelegt wird, konzentriert sich die zweite Perspektive auf das augenblickshafte Da-Zwischen-Sein der Reisenden und damit auf einen Zustand anderer Art. Was hier aufeinandertrifft sind die von Michel de Certeau formulierten Modelle der geplanten, leicht lesbaren und der metaphorischen Stadt (4). Letztere, die mit einer undurchschaubaren und blinden Beweglichkeit verbunden ist, scheint die Arbeiten Sandra Beckers zu dominieren. „Herrschte nicht an solchen Orten, an denen sich Tausende von individuellen Reisewegen kreuzten, noch etwas von dem ungreifbaren Charme der ungenutzten Flächen und der offenen Baustellen, der Bahnhöfe und Wartesäle, in denen sich die Schritte verlieren, all diese Orte zufälliger Begegnung, an denen man noch flüchtig die Möglichkeit von Abenteuer spürt, das Gefühl, daß man die Dinge nur >kommen lassen< muß?" (5) Diese Frage des Protagonisten einer Erzählung des Ethnologen Marc Augé könnten sich auch manche der von Sandra Becker fokussierten Passanten stellen. 

Tatsächlich hat jeder von uns dieses unbestimmbare Gefühl von Freiheit, das solche transitorischen Orte hervorrufen, wenn nicht schon einmal an sich selbst verspürt, so doch zumindest bei anderen beobachtet. Wundersame Choreographien erfüllt von spielerischer Leichtigkeit entfalten sich mitunter, wenn Mitreisende plötzlich und unerwartet, scheinbar für einen kurzen Augenblick aller Notwendigkeiten enthoben, Ornamente im Raum ausbilden, als wären sie Tänzer. Verstärkt wird dieser Eindruck einer theatralischen Inszenierung durch die architektonische Gestaltung der unterirdischen Bahnhöfe. In ihrer ungebrochenen Künstlichkeit, ihrer oftmals durch Stützen gegliederten und somit die Handlungen der Wartenden rahmenden Architektur und nicht zuletzt durch ihre Lichtgestaltung, erscheinen sie als Bühnen des Alltags auf denen sich die Heroen des modernen Lebens bewegen. Die Fremdheit des Alltäglichen, die uns hier begegnet, übt eine Faszination aus, die Sandra Becker mit Peter Handke teilt: Die Stunde, da wir nichts voneinander wußten heißt ein Stück des Autors, in dem eine Vielzahl von Menschen unablässig die Bühne überquert. Beiden gemeinsam ist die Transposition der Handlungen in einen Raum jenseits der ästhetischen Grenze, hier das Theater, dort der Ausstellungsraum. Anders als Peter Handke verbleibt Sandra Becker mit ihren Videos in jenem Medium, das für den spezifischen Ort, die U-Bahn, normativ ist, und tritt damit automatisch in Opposition zu jenen Bildern, welche die Überwachungskameras pausenlos liefern. Denn deren Logik ist binär: Sie tasten ihre Umwelt allein nach verdächtigen Handlungen ab und scheiden die Bewohner des urbanen Raums in solche, die sich regelgerecht verhalten und solche, die den Ablauf stören: Selbstmörder, Obdachlose, Kriminelle und neuerdings auch Raucher. 

Sandra Becker arbeitet zwar mit einer ähnlich niedrigen Auflösung und reduzierten Farbigkeit, benutzt dafür aber Wiederholung, Beschleunigung und Verlangsamung der Bilder sowie Unterbelichtung und Unschärfe als künstlerische Stilmittel. Zudem unterläuft sie die normative Totale der Überwachungskameras, indem sie eine Vielzahl von Standpunkten einnimmt. So setzt sie dem Terror der Überwachung die, wie sie es nennt, „Poesie des Wartens" entgegen. Nicht das Abbilden des urbanen Raums ist ihr Ziel, sondern medial eine andere Wirklichkeit zu schaffen, Fragmente fiktiver Geschichten zu erzählen, um so unser Wirklichkeitsbewußtsein aus dem Gleichgewicht bringen. Doch gleichzeitig verweisen die Bilder darauf, daß unserer Bewegung ein ökonomisch-technisches Maß eingepflanzt ist, das wir längst als zweite Natur akzeptiert haben. Die Freiheit, die wir in jenen Momenten der Passivität verspüren, die an transitorische Orte gebunden sind, können wir nur deshalb genießen, weil sie das Ergebnis einer höheren Macht zu sein scheint. Doch diese Leichtigkeit der Existenz währt nicht lange - sie hat ihre Ursache in einer erzwungenen Pause. Vom Ideal tatsächlicher Ruhe aber ist dieser Zustand weit entfernt. Diese Ideale der Ruhe und der Freiheit in Erinnerung zu rufen, ohne die erlebte Freiheit und Ruhe vergessen zu machen, das zeichnet die Arbeiten Sandra Beckers aus. 
 

Fußnoten:  

(1) Charles Baudelaire, hier zitiert aus: Walter Benjamin, Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, Frankfurt/M. 1992, S. 39 
(2) vgl.: Marc Augé, Orte und Nicht-Orte, Frankfurt/M. 1994, S. 7-12 
(3) siehe die Ausstellung Supermarkt in der Shedhalle Zürich 1998 (Katalog in Vorbereitung) 
(4) Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 182 f. 
(5) s. Anm. 2