Befreit von den Sünden des Lebens

Auf der Pilgertour um den heiligen Kailash entwickeln die Tibeter übermenschliche Kräfte

Der Kailash gilt bei den Buddhisten als der heiligste Berg Asiens. Hier sollen sich die vier Fußabdrücke Buddhas befinden. Wer den Kailash umrundet, wird befreit von den Sünden eines Lebens. 108 Umrundungen garantieren das ewige Leben, die Befreiung vom Leid der Wiedergeburt. Die Umrundung des Berges, die Parikrama, stellt das Durchleben des Lebenszyklus dar: der Anstieg im Süden durch sandige Hügel die Mitte des Lebens, die Annäherung an den Kailash im trockenen Westen das Alter, die Überquerung des Passes Dölma La den Tod und der Abstieg in das saftige grüne Osttal die Geburt.

Mit Jeeps und Lastwagen waren wir eine Woche von Nepals Hauptstadt Katmandu Richtung Westtibet unterwegs. 1000 Kilometer Schlaglochpiste liegen hinter uns, als wir Darchen, eine kleine Siedlung am Fuße des Kailash, erreichen. Von hier aus führt der Pilgerpfad im Uhrzeigersinn um den Kailash herum. Diesen Pfad wollen wir in den nächsten drei Tagen begehen.

Wir müssen ein wenig Geduld haben, ehe sich der Kailash zeigt. Endlich reißt die Wolkendecke auf, und der Blick auf den Berg ist frei. Die treppenartigen schwarzen Felsstreifen der schneebedeckten Südseite deute ich als "Treppenweg zum Himmel". Doch unser Sherpa aus Nepal lächelt, korrigiert. "Nein, das sind die Stirnrunzeln Shivas!" Bedeckt mit einer gleichmäßigen Eiskappe, kann man ihn sich wirklich als den Thron Shivas vorstellen, für den der Kailash nach hinduistischem Glauben gehalten wird. Der in das Tal hineinragende und jetzt auch gut sichtbare Felsvorsprung soll den Kopf eines Stiers, des Reittiers Shivas, darstellen.

Reich an Sagen ist die Kailash-Region, das Quellgebiet der vier größten Flüsse Asiens: des Brahmaputra, des Indus, des Sutlej und des Karnali. Nach der Mythologie entsprang der Sutlej dem Maul eines Elefanten, der Indus dem eines Löwen, der Karnali dem Schnabel eines Pfaus und der Brahmaputra einem Pferdemaul. Der Gold führende Sutlej soll kühl, der silberhaltige Karnali warm, der den Katzenaugenedelstein führende Brahmaputra kalt und der Diamanten enthaltende Indus heiß sein. Wer aus diesen Flüssen hier am Kailash trinkt, soll gesund wie ein Elefant, mutig wie ein Löwe, stark wie ein Pferd und schön wie ein Pfau werden. Der Sage nach umrunden die Flüsse sieben Mal den Kailash, bis sie, wie in der Realität, in alle vier Himmelsrichtungen abfließen.

In der Ferne bewegt sich langsam ein Punkt, mal größer, mal kleiner. Ein Pilger, staubbedeckt, mit lederner Schürze vor Bauch und Knien, wirft sich auf den Boden. Er richtet sich wieder auf, faltet die mit Holzbrettern geschützten Hände vor der Brust, hebt sie in die Höhe, geht einige Schritte vorwärts und wirft sich wieder auf den Boden. So mißt er mit seiner Körperlänge die gesamte Wegstrecke aus, berührt jeden Zentimeter des heiligen Bodens. Mehr als zwei Wochen dauert die Umrundung des Berges mit Niederwerfung. Dennoch findet der Pilger Zeit und ein Lächeln für mich. Ich schenke ihm ein Foto des Dalai-Lama. Seine Augen strahlen. Ehrfürchtig betrachtet er das Bild seines Gottkönigs und legt es sich dann auf den Kopf. "Yischi Norbu" murmelt er dabei, was soviel wie "wunscherfüllender Edelstein" bedeutet. Es ist eine Ehrenbezeichnung des Dalai-Lama und hier in Tibet gebräuchlicher als sein eigentlicher Titel.

Früh beginnen wir am nächsten Tag den Aufstieg zum Dölma-Paß. In unendlich scheinenden Treppen geht es hinauf zum höchsten Punkt der Parikrama. Einatmen, den linken Fuß vor, ausatmen, den rechten Fuß vor. Zentimeterweise kriechen schnaufende Yaks und schwer atmende Tibeter den Berg hoch. Der Puls rast beim Aufstieg. Jedes Anzeichen von Kopfweh, Übelkeit oder Schwäche wird sofort registriert. Es wird kalt, Wolken ziehen auf, ein scharfer Wind beginnt zu wehen. Ich gehe im Pulk zusammen mit fröhlichen, ausgelassenen Tibetern, die mit übermenschlichen Kräften ausgestattet zu sein scheinen, Familien mit Kleinkindern und sogar Säuglingen in der Rückentasche, sie alle sind in einer seligen, weltentrückten Stimmung. Eine alte Frau, die nach wenigen Schritten immer wieder zusammenbricht, wird von anderen Pilgern aufgehoben und zum Weitergehen angespornt.

Endlich der Paß, übersät mit flatternden Gebetsfahnen und zwischen den anderen zu einem kleinen Hügel aufgehäuften Steinen stecken Haare, Knochen und Kleidungsstücke. Obenauf türmen sich mit Bändern umwickelte Ziegen- und Yakschädel, deren Hörner kunstvoll eingeritzt und bemalt sind. 5 530 Meter zeigt mein Höhenmesser. Jeder der Pilger läßt sich erst einmal erschöpft, glücklich lachend und betend für kurze Zeit nieder. Ich sitze und schaue: Zwei Nepali hocken auf dem Boden, entzünden ein kleines Feuer, streuen verschiedene Pülverchen und Kräuter in die Flammen. "Wir reinigen die Atmosphäre", erklären sie und binden mir rote Wollfäden ums Handgelenk. "Gott Shiva beschützt dich!"

Ich verweile auf dem Paß nicht allzu lange, denn es fängt an zu schneien und stechende Kopfschmerzen plagen mich. Also beschließe ich, sofort wieder auf der anderen Seite hinabzusteigen. Der Weg ist steil, führt durch rauhen Fels, vorbei am heiligen, eisgrünen Bergsee Gaurikund. In ihm zu baden gilt als besonders verdienstvoll. Schnell ist die Rückseite des Kailashmassivs von Wolken eingehüllt, und es kommt eine unheimliche, bedrohliche Stimmung auf.

Der Rückweg verlangt größte Aufmerksamkeit. Alles konzentriert sich auf den nächsten Tritt, den nächsten Felsen. Gute fünf Stunden dauert der Fußmarsch bis zum nächsten Lager.

Der dritte und letzte Tag der Parikrama ist angebrochen. Im Morgengrauen erkenne ich auf den gegenüberliegenden Gipfeln Neuschnee. Vor uns taucht die Ebene auf - weit hinten silbrig der Gurla Mandata. Das Panorama hält mich gefangen. Abends, als die Strahlen der untergehenden Sonne die Berge in der Ferne berühren, kommen wir in Darchen an. Ein Schneegipfel nach dem anderen wird in Licht gehüllt, verschwindet plötzlich in der Dunkelheit, ebenso unerwartet wie die Strapazen der letzten Tage.