Das letzte tibetische Königreich

Eine Expedition durch Mustang auf den Spuren der Salzkarawanen ist wie eine Reise in das Mittelalter

Siebzehn Plätze hat die zweimotorige Twin Otter, die uns nach Jomosom, acht Kilometer südlich des Mustang-Gebietes, bringt. Wie betrunken torkelt das Flugzeug zwischen den Achttausendern hindurch, gerät in Wolkenfelder und Turbulenzen, bis es hart, aber sicher auf der Rollbahn aufsetzt. Von Schnee keine Spur, obgleich wir uns in 2 700 Meter Höhe befinden. In Jomosom, dem Ausgangspunkt vieler klassischer Trekkingrouten, pflegen sich bei Milchtee und Daal Bhaat Reis mit Linsen die Trekker in den Rasthäusern an die Höhe zu gewöhnen. Aber Wangjuk drängt zum Aufbruch. "Wir akklimatisieren uns unterwegs", verkündet er und nennt uns das Ziel. "Heute gehen wir auf dreizwei." Wangjuk steigt mit Lust über 5 000 Meter hoch und läuft Tausende Kilometer weit. Er ist der klassische Sherpa: erfahren in seinem Metier, das Risiko kennend und kontrollierend, von unglaublicher körperlicher Kondition.

Die Route durch Mustang führt von Kagbeni auf einem alten, zwei bis drei Meter breiten Karawanenweg westlich des Kali-Gandaki-Flusses nach Lo Manthang, der Hauptstadt. Für die etwa siebzig Kilometer Fußmarsch werden in der Regel fünf Tage veranschlagt.

Bis 1991 durfte nur selten ein Fremder das Königreich betreten. Auch heute noch lässt man nur tausend Besucher jährlich einreisen. Meine Expedition in dieses Königreich ist eine Reise in die Welt des Mittelalters. Denn wie im europäischen Mittelalter gehen die Menschen hier zu Fuß, tragen alle Lasten auf dem Rücken, und nur die Wohlhabenden haben Pferde, Mulis oder Yaks. Nicht an malerischen Ausblicken sind die Bewohner Mustangs interessiert, sondern an möglichst kurzen Verbindungen von Dorf zu Dorf.

Wir erreichen Ghemi, ein 350-Seelen-Dorf. Verwandte des Königs von Mustang herrschen hier. Raju Bista, Großneffe des Königs, begrüßt mich im Gästezimmer seines dreistöckigen Hauses. Der 30-Jährige führt mich in seinen privaten Betraum. Tibetische Kerzen leuchten hier: brennende Dochte auf geschmolzener Butter in Silberschalen. Die Atmosphäre ist feierlich spirituell. Weil Raju Bista Jeans, ein T-Shirt und eine Baseballmütze trägt, wirkt er hier selbst wie ein Fremder. Obwohl er studiert hat und trotz der legeren Kleidung ist er im Innersten ein Mustangi geblieben. An den Verhältnissen in Mustang lässt er kein gutes Haar.

Früher erwirtschafteten sich die Mustangis einen bescheidenen Wohlstand, als noch die Salzkarawanen von Tibet und die Getreidehändler von Nepal durchs Königreich zogen. Als aber in den fünfziger Jahren die Chinesen Tibet besetzten, schlossen sie die Grenze und der Handel brach zusammen. Nun ist die Landwirtschaft als einziger Erwerbszweig übrig geblieben und ernährt die Bewohner des Königreichs mehr schlecht als recht.

"Kein Krankenhaus in ganz Mustang", klagt der Neffe, und die Schulen seien schlecht. Jetzt wolle man Mustang für eine begrenzte Anzahl von Touristen öffnen, aber ob von den hohen Trekking-Gebühren ein Teil an die Mustangis gehe, wage er zu bezweifeln.

Durch eine verwinkelte Gasse und dann über eine Baumstammleiter führt mich Raju Bista zum Haus der Familie Pasang Gurung. In der Mitte des Wohnzimmers ist eine Feuerstelle, darum Bänke aus Lehmziegeln. Auf dem Feuer kochen in rußgeschwärzten Töpfen Tsampa Gerstengrütze und tibetanischer Tee. Dieser Tee ist ein fettiges Gebräu mit Salz und Butter. Im Raum wabert der beißende Rauch des Feuers. Zunächst erkenne ich nur vage die Umrisse anderer Personen: den eines Kindes, den einer Frau und den eines ihrer beiden Ehemänner. Die Polyandrie, der Brauch, dass eine Frau mehrere Männer hat, ist in Mustang noch nicht abgeschafft.

Sonam Pal erzählt, wie sie von ihren Männern, zwei Brüdern, umworben und in einer gemeinsamen Zeremonie geheiratet wurde. Pasang, der jüngere, arbeitet auf den Gerstenfeldern der Familie. Jangbu, der ältere, handelt mit Pferden. Pasang erklärt, warum Polyandrie noch üblich ist. "Wenn jeder Mann eine Frau heiraten würde, müssten wir die Felder zerstückeln. Dann würden sie keine Familie mehr ernähren. Wenn wir eine Frau teilen, bleiben Haus und Land zusammen." Jeder der Brüder verbringt drei aufeinander folgende Nächte bei Sonam Pal. Die Kinder nennen den älteren Bruder Vater, den jüngeren Onkel.

Unterwegs bricht ein Sandsturm aus. Sand, überall Sand: im Gesicht, im Mund. Die Augen brennen und tränen, die Lippen platzen auf. Wir gehen dennoch weiter. Gegen Mittag erreichen wir eine Passhöhe. Unten im Tal sind rote und weiße Schutzmauern einer großen Festung zu sehen. Lo Manthang die geheimnisumwitterte Stadt im Himalaya; über Jahrhunderte hinweg nur bekannt aus Erzählungen weniger Reisender. Wangjuk lotst uns durch die staubigen Gassen. Über den Eingangstüren der Häuser hängen Ziegenschädel mit Papierstreifen. Auf den Zetteln stehen Zaubersprüche, mit denen die Menschen den Dämonen den Zugang in die Häuser versperren. "Dämonen spuken überall auf den Straßen, den Feldern, in der Luft. Sie sind so real wie du und ich", erklärt Wangjuk sehr ernsthaft.

Wir sind an einer Treppe angekommen. Steile Steinstufen führen zur Klinik des Lama Tashi Tenzing. Er ist einer der beiden Amchis hier in Lo Manthang. Die Amchis praktizieren eine über 2000 Jahre alte Form der tibetischen Medizin. Ärzte nach westlichem Vorbild gibt es in Mustang nicht. Gerade wird ein älterer Mann wegen chronischer Kopfschmerzen behandelt. Kräuter und andere Heilmittel halfen nicht. Deshalb greift der Amchi auf eine Behandlung zurück, die westliche Ärzte längst aufgegeben haben den Aderlass. "Es gibt gutes und schlechtes Blut", erklärt Lama Tashi und ritzt mit einem kleinen Messer am Arm des alten Mannes eine Ader an. "Ich habe das schlechte Blut aus dem Arm entfernt", erklärt er später. "Es ist für Beschwerden oberhalb der Taille verantwortlich. Für Beschwerden zwischen Taille und den Füßen lasse ich schlechtes Blut aus dem Knöchel ab."

Am nächsten Morgen besuche ich die Dorfschule. Ein kleiner Junge in einer zerschlissenen Kutte zieht mich mit schelmischem Lächeln in ein Klassenzimmer mit Lehmfußboden. Auf einer Tafel steht in Englisch: "MUSTANG A LAST TIBETAN KINGDOM". Mustang das letzte tibetische Königreich.