Die Austreibung des Dämonen

Im indischen Spiti hat ein auf der Welt einzigartiges Ritual überlebt - das Steinebrechen

Es ist ein Klang zum Steine Erweichen. Ein langgezogenes Wimmern, das an einen gequälten Esel erinnert, entwindet sich dem langen Kupferhorn und schallt über das Tal, in dessen Grund sich der Spiti-Fluß schlängelt. Kaum ist der Ton verhallt, füllen die beiden Mönche ihre Lungen wieder mit Luft, setzen das Langhorn,die Ragdun, an den Mund und schicken eine neue Klage ins Land. Die Klänge sind Urlaute und folgen keiner Ästhetik. Für den Laien kein leichtes Hörerlebnis. Die immer gleichen Töne sollen das Bewußtsein befreien und in andere Dimensionen entführen. Jeden Morgen um zehn steigen sie auf das Dach ihres Klosters Key im indischen Spiti. Wer ihnen folgt, war noch nie dem Himmel so nah.

Wie von Götterhand gemalt, erscheint die Landschaft: oben tiefes blau, unten steiniges Gelb. Spiti ist ein trockenes Land. Das 5000 Quadratkilometer große Gebiet, in dem rund 9000 Einwohner leben, ist umschlossen von meist namenlosen Sechstausendern. Das Groß der Monsunwolken regnet sich schon vorher ab, nur der etwas über 4500 Meter hohe nördlich gelegene Kunzum-Paß bekommt ab und zu ein paar dünne Tropfen ab, für "Piti", das Mittelland, wie Spiti genannt wird, das Land zwischen Indien und Tibet, bleibt kaum etwas. Nur da, wo der Spiti und seine Nebenflüsse strömen, sprießt Grün, sprießt Leben aus den kargen Hochgebirgstälern in 3500 Metern Höhe. Um diese Oasen aus Bäumen und kleinen Getreidefeldern blüht die bescheidene Vielfalt aus Menschenhand: das Rot der Mönchsgewänder, die Pracht der vergoldeten Buddhastatuen und Klosterfresken. Das Spitital ist die Lebensader Spitis. Wie Perlen sind Key und seine Nachbarklöster darin aufgereiht. Dhankar, Tabo, Kungri und viele kleinere Mönchsgemeinschaften.

Zu ihren Füßen liegen staubige Dörfer aus Lehmziegelbauten, die sich an die Berghänge kauern. Die Bauern sorgen mit ihren Gaben seit Jahrhunderten dafür, daß die frommen Männer ein buddhagefälliges Leben führen können. Und sie halten die Klöster im doppelten Sinne am Leben: Noch heute schicken viele Familien ihren jüngsten Sohn im Alter von sechs Jahren "auf den Berg". Einer von ihnen ist Tashi, acht Jahre alt. Nach der Ragdun-Zeremonie auf dem Dach sitzt er jetzt gehorsam im Chokhang, dem großen Versammlungssaal des Klosters. Kahlgeschorene Novizen und ihre Lehrer bilden lange Reihen im Halbdunkel, das nur von Fettlampen und durch das Tor fallende Sonnenstrahlen erhellt wird. Die Mönche antworten im Chor auf den Vorbeter, während sie Buttertee schlürfen. Streng riechendes Yakfett, das in großen Augen auf dem Tee schwimmt, verwenden die Gläubigen auch für phantastische, bunte Figuren, mit denen sie Dutzende von Gottheiten ehren. Wer diese Kunstwerke vor den Klosteraltären sehen will, halte sich an den Mönch mit dem dicken Schlüsselbund. Wo das Licht des Tages durch die aufgesperrte Tür fällt, leuchten farbenprächtige Wandmalereien von göttlichen Fabelwesen auf. Erklären kann der freundliche Mönch nichts, er deutet auf die Klosterschüler, die nach der Buttertee-Zeremonie im Hof herumtollen.

Nicht weit von hier, verraten uns die Mönche beim Abschied, hat noch ein geheimnisvolles Ritual der Dämonenaustreibung überlebt. Das rätselhafte Schauspiel soll einzigartig auf der Welt sein. "Man nennt das Ritual "Kult des Steinebrechens", erklärt uns Namgyal. Ein schwerer Stein wird auf der Brust eines Butschen zerschlagen. Die Menschen versetzen sich in Trance und bekommen so eine andere Kontrolle über ihren Körper und vor allem ihrer Atmung. Es ist eine alte magische Praxis, die sich noch aus der Übergangszeit von der Bön-Religion zum Buddhismus erhalten hat. Das Gute kämpft mit dem Bösen."

Fast zwei Stunden dauert das Trance-Ritual, dass das Tal von bösen Geistern befreien soll. Sechs Butschen gibt es nur noch. Sie selbst verstehen sich als Wanderprediger, die im Schamanengewand dem Volk die Lehre Buddhas verkünden. Die letzten, die das 500 Jahre alte Ritual des "Steinebrechens" noch beherrschen. Totenstille herrscht auf dem Platz. Alles konzentriert sich auf einen 100kg schweren Stein. Das Böse wird in den Felsbrocken gebannt, der Dämon aufgemalt. Tiefer Glaube ist für die Mönche immer auch mit Leichtigkeit verbunden. So wundert es nicht, dass auch ein Clown auftritt. Er versucht die Vorstellung der Butschen zu stören und zieht alles ins Lächerliche. Er behauptet, ein wahrer Buddhist zu sein und verhöhnt den Lehrmeister der Butschen, Thangtong Gyalpo, der es erstmals vor 500 Jahren geschafft hat, übernatürliche Kräfte zu entwickeln und sie zur Bekehrung der Menschen einzusetzen.

"Was ist das hier für ein Dorf ? Ihr marschiert wie beim Militär. Sogar schon die Kinder. Und wenn ihr jemanden grüßt, dann steht ihr stramm!" blödelt er in die Runde. Er veralbert alles und jeden, besonders aber die Butschen. Um so größer wird deren Leistung am Schluß erscheinen. "Wie siehst du denn aus? Und was soll die Gebetsmühle da ? Hm ? Das alles wird dir nichts nützen! Du wirst keine Erlösung finden!" Seine Scherze sind Hohn und Spott. Kritik, verpackt in kabarettistischer Übertreibung. Dann beginnt einer der Butschen den Dämon im Stein zu beschwören, herauszukommen und zu verschwinden. Opfergaben, Versprechen, Drohungen und Bitten. Nichts scheint zu helfen. Namgyal und andere Zuschauer spenden Geld. Noch ein symbolischer Versuch, den Dämon zu beeindrucken. Demonstration magischer Kräfte. Das Böse soll sehen, wer hier der stärkere ist. Als Beweis für das Böse, das die Butschen stärker sind und es zerstören werden, beginnt einer im Trance sich eine Nadel durch die Wange zu stechen, wirbelt beim Tanz seine Schwerter durch die Luft und balanciert auf den Schwertspitzen, ohne sich dabei zu verletzten. Der Kontakt zu den Geistern scheint hergestellt. Gebannt folgen die Zuschauer den Darbietungen. Doch alle Mühe war vergeblich. Auch die letzte symbolische Versuchung, den Dämonen zu vernichten, bleibt erfolglos. Jetzt muß der Wohnsitz des Dämonen, der mächtige Stein zertrümmert werden auf der Brust eines zweiten Butschen. Mit einem großen, runden Flußstein zerschmettert er daraufhin den Dämonenstein und damit seinen Bewohner, ohne den Darunterliegenden zu verletzen. Ein dumpfer Ton, Staub steigt hoch, der Stein ist in zwei Teile zerbrochen. Nun ist der Dämon endlich vertrieben. Alles strömt auf dem Platz. Mit Tänzen und Gesängen wird der Sieg des Guten über das Böse gefeiert. Man spürt die Frömmigkeit, diesen tiefen Glauben, der es den Menschen in Spiti erst ermöglicht, den Naturgewalten zu trotzen und zu überleben.