VÄRTTINÄ
Värttinä entstand 1983 in einem kleinen Dorf im Südosten von Finnland, in Rääkkylä, in der Region Karelia. Die Mutter von Sari und Mari Kaasinen bestärkte ihre Töchter, sich der karelischen Volksmusik zu widmen, eine Gruppe zu gründen und zu singen. Die beiden Mädchen äußerten sich der Presse aber schon mal, dass sie bereits auf Parties gesungen hatten, als sie gerade einmal sprechen gelernt hatten. Zuerst bestand die Formation ausschließlich aus Mädchen, Värttinä ist das finnische Wort für Spindel, doch irgendwann eröffneten sich ihnen die Möglichkeiten eben aus dem Zusammenspiel zwischen Jungs und Mädchen. Ihr erstes männliches Mitglied war Janne Lappalainen. Die Band wuchs in ihrem Umfang immer mehr an. Die Gruppe bestand in ihren frühen Tagen, 1985, aus rund 15 jungen Mädchen und sechs Jungen. Die Mädchen sangen und spielten die Kantele (das finnische Nationalinstrument), die Jungs begleiteten sie an der Akustikgitarre, der Geige, Saxophon, Akkordeon und mit der Flöte. Doch mit der Zeit wurden die Mitglieder älter, sprich, sie wurden erwachsen, die Band brach auseinander, um sich mit frischer Kraft neu zusammenzufinden. Heute besteht Värttinä aus neun Musikern: Mari Kaasinen, Kirsi Kähkönen und Sirpa Reiman singen. Riitta Kossi spielt das Akkordeon, Antto Varilo die Gitarre, Pekka Lehti den Bass, Kari Reiman Kantele und Geige, Marko Timonen Schlagzeug und Perkussion, und Janne Lappalainen bedient die Bouzouki und die Windinstrumente.
Ich habe die Band das erste Mal auf den „Berlin Independence Days" kennengelernt. Ich weiß nicht mehr, in welchem Jahr das war. Sie traten auf der Bühne des heutigen Podewils auf, und ihre Freude am Spiel begeisterte mich sofort. Bald darauf kaufte ich mir das Album „Seleniko", das ich auch heute noch immer dann auflege, wenn ich einmal traurig bin. Keine Traurigkeit kann neben diesen finnischen Liedern von Värttinä bestehen.
Im Januar 1997 enterte „Kokko" die Europäischen World Music Charts, im März traten sie das letzte Mal in Deutschland auf. Aus diesem Anlass habe ich Sirpa Reiman, eine der Sängerinnen der Band, und ihren Mann Kari Reiman, der die Gruppe mit Geige und Kantele verstärkt, in der Halle ihres Hotels in Berlin getroffen. Später gesellte sich Pekka Lehte, der Bassist, zu uns.
Queer View: Die heutige finnische Kunst macht uns glauben, dass die Finnen größtenteils depressiv sind, die sich dem Alkoholismus zuneigen und Selbstmordgedanken nachhängen. Doch die Musik von Värttinä ist voller Sonnenschein, gepaart mit der Selbstvergessenheit von Kinderseelen. Verbirgt sich dahinter eine bewusste künstlerische Entscheidung, oder strahlt dieses Glück aus den Persönlichkeiten seiner Musiker?
Sirpa Reiman: Ich glaube, dass das etwas Traditionelles ist, doch auch die Persönlichkeit der Musiker hat Anteil daran. Wir sind nicht depressiv, wir neigen nicht zum Selbstmord. Nun, als Värttinä vor ca. elf Jahren anfing, da bestand das Repertoire aus traditionellen Liedern. Seine Mitglieder waren jung, sie wollten fröhliche Stücke singen. Lieder, in denen die Mädchen die Jungs aufziehen, zum Beispiel. Das waren glückliche Lieder. Die Gruppe veränderte sich mit der Zeit sehr. Heute schreiben die Musiker ihre eigenen Stücke, doch das Traditionelle ist immer noch da. Die Musik lebt von der Energie der Frauen, von ihrem Glück. Wir singen allerdings auch traurige Lieder. Ich finde, unser Publikum spürt, wieviel Energie aus uns kommt.
QV: Bei euren Festivalauftritten konnte man beobachten, wie, sobald die Band zu spielen anfing, die Kleinkinder sich der Bühne näherten. Das ähnelt stark einer biblischen Szene. Wie glaubt ihr, kann die Musik die Art und Weise der Menschen zu denken beeinflussen?
Sirpa Reiman: Sicherlich ist das möglich, doch solange du spielst, spielst du einfach nur und denkst nicht an die Folgen. Wir können die Musik spielen, die uns gefällt, so wie wir sie lieben. Oft besuchen uns die Menschen nach einem Konzert, und das empfinde ich als wichtig. Sie unterhalten sich mit uns, teilen ihre Gefühle mit uns. Die Musik ist sehr individuell, die Menschen empfinden sie unterschiedlich. Es ist sicherlich wahr, auch wenn ich es im Vergleich zu anderen Gruppen als seltsam empfinde, dass unser Publikum auch aus sehr kleinen Kindern und aus sehr alten Menschen besteht. Ich weiß nicht, warum, doch auf unseren Konzerten sind oft sehr viele Kinder da, und sie kennen die Lieder, sie singen mit.
QV: Die meisten von euch haben eine Familie, haben Kinder. Nimmt ihr die Kinder mit auf Tournee?
Sirpa Reiman: Meine Tochter fährt mit uns, schließlich spiele ich mit meinem Mann in einer Band. Auf längere Reisen nehmen wir sie daher gerne mit. Doch die Umstände müssen stimmen, der Zeitplan darf nicht zu anstregend sein.
QV: Sari Kaasinen ist aus der Band ausgestiegen.
Sirpa Reiman: Das stimmt. Vor ungefähr zwei Jahren hat sich alles geändert. Ihre Kinder waren klein, bei den längeren Tourneen wollte sie daher nicht mehr dabei sein, eben wegen der Kinder. Dann beschloss sie, zurück in ihre Heimatstadt zu ziehen, nach Rääkkyla, das ist 500 Kilometer von Helsinki entfernt. Wir leben alle in der Hauptstadt. Sie zog es zurück nach Nord-Karelia, und dann wurde ihr dort ein Job angeboten. Sie ist jetzt Musiklehrerin. Es wurde ihr damit unmöglich, weiterhin Bestandteil der Band zu bleiben. Värttinä ist ein vollwertiger Job, wir sind sehr viel unterwegs. Doch unabhängig davon werden wir bestimmt in der Zukunft etwas gemeinsam unternehmen.
QV: Vor zehn Jahren habt ihr tradionelle karelische Volksmusik gespielt, mit Kantele-Instrumentierung und so. Heute ähnelt die Gruppe musikalisch und überhaupt mehr einer Pop-Gruppe. Wie kam es zu dieser Wandlung?
Sirpa Reiman: Wir haben uns sehr verändert. Die Band entstand in Nord-Karelia, in der Heimatstadt von Sari und Mari Kaasinen. Rääkylä ist wirklich nur ein kleines Dorf. Sie waren sehr jung. Die Truppe bestand damals aus ungefähr zwanzig Leuten. Während sie heranwuchsen, wurden sie immer erfolgreicher. Damals gehörte ich noch nicht dazu. Nun, die Band wurde immer mehr zur Berufung. Schließlich war man nicht mehr Kind, das ganze war kein Hobby mehr. Die Gruppe löste sich auf, was nur zu natürlich ist. Das war 1989. Einige, fünf aus der ursprünglichen Truppe, darunter Sari, Mari und Kirsi, wollten die Arbeit weiterführen. Damals zogen sie alle nach Helsinki, um dort auf die Universität zu gehen. Sie suchten sich neue Mitmusiker, 1990. Damals wandelte sich die Gruppe also gewaltig. Sie behielten den Namen Värttinä bei, doch die neuen Musiker und damit der Stilwandel war sehr einschneidend. Fortan bediente sich die Gruppe nicht mehr nur der traditionellen Musik, auch wenn traditionelle Stücke weiterhin im Repertoire blieben. Im Laufe der Jahre, und ich finde, das ist eine natürliche Entwicklung, begannen die Musiker, ihre eigenen Lieder zu schreiben. Die Tradition lebt in unseren Herzen jedoch weiter, auch die Texte sind sehr traditionell.
QV: Das aktuelle Album, „Kokko", und das des letzten Jahres, „Aitara", ähneln sich stilistisch sehr. Hat die Band ihren optimale Klang gefunden, oder wird es weitere Veränderungen geben?
Sirpa Reiman: Größere Veränderungen wird es nicht geben. Die Band besteht jetzt aus neun Mitgliedern. Ich glaube nicht, daß es noch mehr werden. Wir suchen keine neuen Musiker, und wir nehmen auch keine neuen Instrumente mehr auf. Doch wir sind nach allen Seiten hin offen. Vielleicht werden wir mehr Songs haben, die jeweils nur eine Sängerin singt, mehr Solos also. Jeder von uns könnte ihre Persönlichkeit noch intensiver einbringen.
QV: Es gibt viele finnische Folkmusic-Gruppen, die nicht ausgesprochen finnische Volksmusik spielen, sondern Tango, irische oder Musik vom Balkan. Gibt es da eine Art neue Welle?
Sirpa Reiman: Ich weiß es nicht. Ich glaube, eine große Rolle spielt dabei die Universität. Die Sibelius Akademie, übrigens eine sehr renommierte Schule, hat vor ungefähr zehn Jahren eine Fachrichtung für Volksmusik eingerichtet. Und die Tangomusik, nun, ich glaube, der Tango ist für jedes Land wichtig. Das ist Tanzmusik, und der Tango hat für Finnland immer eine große Rolle gespielt. Hat nicht jedes Land eine Tango-Band?
QV: Welche Kriterien könnten eine Rolle dabei spielen, dass eine immer breitere Öffentlichkeit sich für finnische Musikgruppen interessiert, und sie immer größeren Erfolg haben?
Sirpa Reiman: Eine schwierige Frage, doch glaube ich, dass auch daran die Sibelius Akademie Anteil hat. Heute können sie den Volksmusikern eine Ausbildung bieten.
Pekka Lehti: Vor zehn-zwanzig Jahren haben viele Gruppen den Vorbildern in Amerika nachgeeifert. Doch inzwischen haben die Menschen ihren eigenen Stil gefunden. In Finnland gehen viele ihren eigenen Weg, nur so können sie Erfolg haben. Die finnische Kultur unterscheidet sich von der Europas. Die Menschen sind eigen, ihre Kultur ist eigen, so bringen sie auch Gruppen hervor, die sehr eigen sind.
QV: Wer oder was bestimmt, in welchem Ausmaß Einflüsse aus der Volksmusik, des Rock und Pop oder aus Jazz-Improvisationen in der Band zum tragen kommen? Kann eigentlich eine Gruppe von neun Mitgliedern demokratisch sein?
Sirpa Reiman: Wir arbeiten sehr wohl demokratisch. Die Dinge passieren einfach. Wir beginnen mit der Arbeit an einer Platte gemeinsam, wir kommen zusammen, jeder bringt etwas mit sich zu den Proben, eine Melodie oder so, und wir beginnen. Im Vorfeld wird nichts verworfen, nichts festgelegt. Dann improvisieren wir mit den Melodien.
Pekka Lehti: Das Arrangement ist ein natürlicher Vorgang. Jemand bringt eine gute Melodie, und wir beginnen zu improvisieren. Oder die Mädels lernen eine Melodie, und wir geben die Akkorde und Harmonien dazu. All das bringen wir zusammen, und dann improvisieren wir auch damit. Dann geben wir die Rhythmussektion hinzu, und wieder experimentieren wir mit dem Material. Erst dann entscheiden wir, was wir beibehalten und was nicht. Schließlich geben wir mit dem Akkordeon oder der Geige eine Hintergrundmelodie hinzu. Das alles nimmt viel Zeit in Anspruch.
QV: Bleibt denn dann Platz für Improvisationen auf der Bühne?
Sirpa Reiman: Das hängt davon ab. Dafür haben wir die Soli. Doch viele Stücke sind ziemlich kompliziert.
Pekka Lehti: In den Melodien lassen wir Freiräume für Improvisationen, wir bauen Soli für Saxophon, Gitarre oder das Schlagzeug ein.
QV: Improvisiert ihr auch mit traditionellem Material?
Pekka Lehti: Wir hören uns alte Aufnahmen an, wir lauschen den alten finnischen Volksmusiksängern, doch nur auf unseren alten Aufnahmen haben wir traditionelle Melodien verwendet.
Sirpa Reiman: Wir hören alle unterschiedliche Musik, und viele von uns spielen außerhalb von Värttinä noch in anderen Bands.
QV: Ja, die Mitglieder von Värttinä arbeiten auch in anderen Formationen. Gibt es da nie Diskussionen? Stärkt oder behindert das die Arbeit von Värttinä?
Pekka Lehti: Der Einfluss der Musik vollzieht sich im Unterbewusstsein. Ich glaube nicht, dass wir genau wissen, was wir von wo mit uns bringen. Ich bin überzeugt, dass unsere Nebenjobs unsere Arbeit bei Värttinä helfen. Ja, sie sind sogar ein wesentlicher Teil der Arbeit. Diese Neben-Bands ähneln kleinen Laboratorien, wo wir mit unterschiedlichen Dingen experimentieren können, die wir dann bei Värttinä einbringen, oder auch umgekehrt. Ich meine, das dient dem frischen Sound von Värttinä. Es ist wichtig, mit anderen Musikern zu spielen, zu kommunizieren.
QV: Die Erfolge der Band im Ausland, in Europa und Amerika, fördern sie euren Status in Finnland?
Sirpa Reiman: Wahrscheinlich. Viele sind stolz auf uns, besonders weil wir so viel reisen dürfen.
QV: Wie groß ist der Markt in Finnland, wie viele Platten könnt ihr dort verkaufen?
Sirpa Reiman: Der Markt ist sehr klein...
Pekka Lehti: ... ein sehr kleines Land, wir verkaufen in etwa zehntausend Platten.
Sirpa Reiman: Ich glaube, es ist ein riesen Glück, dass wir auch außerhalb Finnlands auftreten dürfen. Wahrscheinlich haben wir diesem Umstand zu verdanken, dass es die Band noch gibt.
QV: Vielen Dank für das Gespräch.
en, Berlin
copyright: Queer View, July 1997
Nebenprojekte der Musiker:
Ottopasuuna: ein akustisches Folkmusic-Quartet mit Kari Reiman
und seinen Freunden Petri Hakala, Kimmo Pohjonen, Kurt
Lindblad. Später traten auch Janne Lappalainen und Kristiina
Ilmonen bei. Bisher zwei Veröffentlichungen.
Helsinki Melodeon Ladies: Fünf Musikerinnen, darunter Riita
Kossi und Maria Kalaniemi. Bisher wurde eine EP veröffentlicht.
The JPs: J.P. Virtanen spielt zusammmen unter anderem mit
Pekka Lahte und dem Produzenten von Värttinä, Janne
Haavisto.
Perko-Pyysalo Poppoo: Marko Timonen spielt in diesem Quartett
das Schlagzeug.
The Progmatics: Bandmitgleider der Gruppen Pirnales und Koinurit
spielen zusammen mit Janne Lappalainen.
Zetaboo: Jazzmusik des Quartetts, bestehend aus Pekka Lehte,
Marko Timonen, dem Gitarristen Jarmo Saari und der Sängerin
Anna-Kari Kähärä.
Discographie:
1987: Värttinä
1989: Musta Lindu
1990: Oi Dai
1992: Seleniko
1994: Aitara
1997: Kokko
Värttinä auf Compilations-Veröffentlichungen:
World Roots ´92-´93
Tanz & Folksest Rudolfstadt ´93
Yhtenä iltana 30 vuotta Hector lauluja Live
Global Celebration
Music for a Changing World
Atlas Etnico
Estrella Polar
Worldwide ´92
Strictly Worldwide
Planet Soup
Global Divas
Earthcore 2
Global Gumbo
Hector Zazou: Songs from the Cold Seas
Informationen aus dem Internet: http://personal.eunet.fi/pp/dighoe/