"Jazz ist Religion"


Konzert und Interview mit Steve Lacy in der Wabe/Berlin am Freitag, 23.01.1998

von Tom de Vries


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Steve Lacy und die 10 Bläser der frisch gegründeten Werkstattband "Berlin Saxophonic Orchestra" verwandelten am vergangenen Freitag die WABE in Prenzlauer Berg in einen Gottesdienst-Raum. Für Musiker wie Zuhörer wirkte die freie Improvisation über Lacy-Kompositionen wie "Existence", "Prayer" und "Blues for Aida" wie eine berauschende Droge. Claas Willeke startete den Versuch eines neuen Saxophon-Orchesters, nachdem er Steve Lacy für den Erstauftritt gewinnen konnte. Die meisten von ihnen sind wie Willeke HdK-Absolventen: Tina Wrase, Michael Tieke, Felix Wahnschaffe, Tilmann Dehnhard und Peter Sebastian. Dazu kommen: Dietrich Koch, Jörg Miegel, Dirk Steglich und Gregor Hotz. Die neue Truppe ist jedoch keine Konkurrenz für die "Kölner Saxophon Mafia", da sie ein völlig anderes Konzept verfolgt. Sie wollen religiös-meditative Improvisation versuchen. Die nächsten Auftritte könnten auch gut in Kirchen, Synagogen oder Moscheen sein.

Das Konzert wurde aufgezeichnet und wird im März im Deutschlandradio Berlin ausgestrahlt. Unser Mitarbeiter Tom de Vries sprach nach dem Konzert mit Steve Lacy.

T.d.V.: "Herr Lacy, ist Deutschland ein Land für Jazz?"
S.L.:" Aber sicher doch. Als in den 60ern in den USA die Jazz-Clubs niedergingen, gingen sie in Europa hoch. Bis in die 70er gab es in Deutschland Hunderte von Jazz-Clubs. Heute sind von Ihnen nur noch wenige übrig geblieben, aber es sind gute Clubs."

T.d.V.: "Und was halten sie von Berlin?"
S.L.: "Ich bin durch ein Stipendium des DAAD 1996 für ein Jahr in die Stadt gekommen. Berlin ist ein guter Ort zum Spielen, und das Berliner Publikum hat einen ausgeprägten und berühmten Geschmack für guten Jazz."

T.d.V.: "Aber die Musiker können von Jazz auch in Berlin kaum leben."
S.L.: "O Junge, das ist eine Geschichte so alt wie der Jazz. Du kannst nirgendwo auf der Welt von Jazz leben, auch in New York nicht."

T.d.V.: "Sie werden im Juli 64, und man kann Sie ohne Zweifel zu den Alt-Meistern des Jazz zählen. Was ist Ihre beste Platte?"
S.L.: "'Paris Blues'" von 1987 und..."

T.d.V.: "Viele haben Ihr Konzert heute abend mehr als einen Gottesdienst empfunden. Sind sie religiös?"
S.L.: "Ja natürlich, ich bin von einigen Religionen beeinflußt. Der Buddhismus und das Christentum haben mich berührt. Ich stamme von jüdischen Eltern aus New York ab. Ich bin vor meiner jüdischen Religion immer geflüchtet. Du kannst vor Deiner Religion davonlaufen, aber Du kannst Dich nicht vor Ihr verstecken! Letztlich ist der Jazz eine Religion!"

T.d.V.: "Und wo zu hören?"
S.L.: "Nun, vor einigen Jahren haben wir auf dem Berliner Jazz Festival mystische Musik bearbeitet. Der Choral ist für mich eine wunderbare Sache. Im Mai 1998 wird auf dem Label von John Zorn eine Solo-Aufnahme erscheinen, auf der ich urtümliche jüdische Gesänge interpretiere. Das ist mein Jazz, das ist meine Religion!"




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