Thesen zur Zukunft der Kirchenmusik


von Christian Finke


Brotlose Kunst - Kunst der kleinen Brötchen

Kirchenmusik zwischen traditioneller Ausbildung und pluralistischer Gemeindepraxis


0. Ein Berufsbild entsteht dialektisch. Fotographieren bildet ab. Es entsteht eine Momentaufnahme des Daseins. Ein Berufsbild kann und darf nicht fixieren. Denn das entstehende Bild bewegt sich zwischen Aus-bild-ung, denen die den Beruf ausüben und denjenigen, die ein (subjektives) Urteil darüber fällen, was und wozu dieser Beruf gesellschaftlich nötig sei. Und das ist eine Errungenschaft der Aufklärung. Das Berufsbild "Kirchenmusik" bewegt sich also zwischen staatlicher Studienordnung, den haupt- und nebenberuflichen Kirchenmusiker/innen und der Öffentlichkeit.

1. Kirchenmusik, ein unmöglicher Beruf. Geschichtlich betrachtet gehört die Kirchenmusik zu den jüngeren Berufen. Die Musik im Tempel des Alten Testaments wurde von der jüdischen Priesterschaft ausgeführt. Der Kantor der Synagoge war Vorsänger und nicht Instrumentalist. Im katholischen Mittelalter sang der Klerus die Gregorianik. Erst durch Humanismus und Reformation wurde ein Berufsbild geschaffen, welches einen Pädagogen (Schule) und Kantor (Chorleiter für die Gemeinde) kombinierte. Der Organist war immer noch eine Spezies des Instrumentalbereichs. Erst in unserem Jahrhundert also wurde von wenigen ein Berufsbild geschaffen, das Kirche und Musik (die beiden Teile des Begriffs) professionell (als Berufszweig und auf eine einzelne Person ausgerichtet) zusammenlegte. Borodin sagte einmal, daß man Liebe und Musik nicht berufsmäßig ausüben sollte, weil sonst die Seele Schaden nähme. Emotion contra Profession. - Wenn es denn kirchliche Berufe geben soll oder muß, kann das für die Kirchenmusik funktionieren? Mich erinnert es an die Quadratur eines Kreises. Geht nicht, wird der Mathematiker sagen, weil Pi nicht bestimmbar ist. Musik ist dabei vielleicht eher bestimmbar als Kirche oder Gemeinde. Frage: Kann also Kirche und Musik berufsmäßig kombiniert werden? Wobei mit "Beruf" heute schon ein Begriff gewählt wird, die wohl in der Zukunft so nicht mehr gelten wird. Beruf als Berufung scheint den pluralistischen Anforderungen einer modernen Gesellschaft zu widersprechen. - Ich halte übrigens die Trennung von Lebenszuständen (Arbeit und Privatleben, Werktag und freier Tag, Tag und Nacht) für einen verkehrten, der Seele schadenden Weg. Im Prinzip müßte der Tagesrhythmus dem Biorhythmus eines jeden Menschen angepaßt werden, um erfolgreiche und zufriedene Tätigkeiten auszuüben. Und das läßt sich niemals schematisieren oder verallgemeinern. Unsere Teilzeitgesellschaft scheint auf die Bedürfnisse der Individuen einzugehen, unterwirft sie jedoch dem wirtschaftlichen Primat. Darüberhinaus ist die Aufteilung in Haupt- und Nebenberuf, in Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigung ins Wanken geraten, in Auflösung begriffen. Der "Amts"-begriff ist schon seit einiger Zeit nicht mehr zu gebrauchen.

2. Sobald die Ausbildung zum Kirchenmusiker Sache des Staates wird, liegt das Interesse mehr auf der Förderung der Musik-Hälfte des Berufes. Nicht umsonst wird der Kirchenmusiker oft als Künstler mit eigenartigen, komischen Macken angesehen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß das instrumentale Üben, die täglichen, einsamen Stunden mit dem Instrument gerade nicht die kommunikative Ebene fördert, die in der Gemeindearbeit so notwendig ist. An der HdK gibt es im Kirchenmusikinstitut mehr Orgelprofessuren als Chorprofessuren (was allerdings auch daran liegt, daß der Orgelunterricht ein Einzelunterricht ist und der Chorleitungsunterricht ein Gruppenunterricht). Diese Tradition führt konsequenterweise eher zur Reproduktion von "großer" Kirchenmusik als zur Ausübung "funktionalen" Musizierens innerhalb des Gottesdienstes. Einzelne Kurse und Wochenenden können diese prinzipielle Ausrichtung nicht verändern. Die in der Studienordnung verankerte grundsätzliche Vielfalt der musikalischen Ausbildung bleibt ein Desiderat. Alle Bestrebung sind zu unterstützen, in denen diese Vielfalt der Musikstile gelehrt und gelernt werden. Gegenseitiger Respekt ohne Hochmut, der bekanntlich vor dem Fall kommt, fördert nur den liebenswerten Pluralismus des Lebens, der gesamten Schöpfung Gottes. M.E. sind alle Überlegungen, A-, B-, C-, D-, ENO-Ausbildungen zu reformieren nur ein Reparieren längst zu verlegender Gleise. Gemeinden müssen sich überlegen, welche Qualität ihnen die Musik bietet. Die Kirchenmusikausbildung muß sich fragen lassen, ob sie nicht den Wünschen der Gemeinden schneller nachkommen kann als dies z.Zt über den Verwaltungsweg der Fall ist (ich erinnere mich dabei nur ungern meiner eigenen Arbeit in der Ausbildungskommission der HdK von 1978-1981, die 1994 zu einem gesetzlichen Ergebnis führte. Problem in der staatlichen Musikausbildung ist, daß sich ein künftiger Musiker auf dem (Welt-)markt messen lassen muß. Die Professionalität des Musizierens kann aber von den einzelnen Gemeinden später nicht mehr bezahlt werden. Der Kirchenmusiker ist oftmals der Büttel, von dem in der medialen Öffentlichkeit einer Großstadt wie Berlin nur Notiz genommen wird, wenn seine Ideen das Alltägliche überschreiten. (Die Tagespresse in Berlin rezensiert fast keine kirchenmusikalischen Veranstaltungen mehr.) Konsequenz ist die Diskrepanz zwischen (anerzogenem?) künstlerischem Anspruch und bezahlbarer musikalischer Tätigkeit.

3. Die Kirchen-Hälfte des Berufes steht permanent unter dem Einfluß des Generationenwechsels. Da Musik als Kunst immer von "Können" herrührt, also eine Tätigkeit ist, die formalen Prinzipien und Fähigkeiten unterliegt, die erlernt werden können, ist die Musik-Hälfte eher als Konstante zu definieren. Kirche als Institution dagegen führt in diesen Tagen gerade einmal wieder die Entscheidungsgewalt auf die Gemeindeebene zurück. Dort haben gewählte Gemeindekirchenräte Macht und Einfluß auf den Weg und das Profil einer Gemeinde. Die Schwierigkeit besteht nun darin, zu definieren, was Gemeinde ist. Die großen Unterschiede von Stadt- und Landgemeinde (vom Bischof in seinem Synodenbericht kürzlich konstatiert), von Zentrumskirchen ohne Wohnkiez und volkskirchlich oder bekenntniskirchlich organisierten Gemeinden in Wohngegenden, ja auch die Definition von Gemeinde durch Gegensätze wie Pfarrer - Laien - GKR machen ein absolutes Urteil unmöglich. Gemeinde ist also relativ. Es gilt das Jesus-Wort: Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da will ich unter ihnen sein (Mt 11). Gemeinde definiert sich auch aus dem Anspruch zu wachsen, aufgebaut zu werden, zu missionieren. Liegt das Ziel also in der Ausbreitung des Evangeliums oder in der Bewahrung, oder beides? Um bei dem Bild einer Zelle zu verweilen: Ist Kirche Zell-Kern oder Membran zur Außenwelt? Die traditionelle Kirchenmusik kann dem Pluralitätsanspruch der Gemeinde nie genügen. Entweder müssen mehr Personen angestellt werden, die musikalische Arbeit leisten (s. Pfarrer für Alten-, Jugend., Kinderarbeit), oder die Proflie der Gemeinden müßten sich deutlicher voneinander unterscheiden: Hier der Gospelchor, dort der stimmlich geschulte Chor für die Aufführung der Werke der Tradition, hier die musikalische Früherziehung, dort die Arbeit mit den Senioren, die in D immer zahlreicher werden und für die Zukunft eine nicht zu vernachlässigende Aufgabe darstellen, hier die Kantate im Gottesdienst, dort die Taizé-Gesänge zur Meditation. Auf Kirchenkreisebene ließe sich so noch ein ganzes Stück mehr an musikalischer Vielfalt erreichen, die ein Gewinn für den Kreis bedeuteten.

4. Musik und Gemeinde müssen relativ aufeinander bezogen sein. Nach den allgemeinen Dienstanweisungen für ev. Kirchenmusik ist der Kirchenmusiker für das gesamte Musikleben der Gemeinde verantwortlich. Schlechterdings ein unmöglicher Anspruch. M.E. ist er in der Hauptsache verantwortlich für die Musik im Gottesdienst. Da sich aber zur Zeit das Gottesdienstbild wandelt, ist die notwendige musikalische Zuarbeit hierfür in der Schwebe, nicht mehr verankert. Man rettet sich im Anthropologischen und Therapeutischen: Musik in der Gemeinde soll Menschen zueinander bringen, die loben, klagen, getröstet werden, sich erbauen, meditieren oder lernen wollen. Musikarbeit für die Gemeinde bedeutet also einerseits musikalische Erziehung der Gemeindeglieder, andererseits Heilung (mit)menschlicher Zustände. Hier ist natürlich von Gemeinde zu Gemeinde zu unterscheiden. Der Kontext ihrer jeweiligen Musikerfahrung ist einzubeziehen. Gottesdienst ist ohne Gesang eigentlich nicht möglich. Klar, meditative Gottesdienste können schweigend gefeiert werden. Doch Singen und Sagen gehören nicht erst seit mindestens 500 Jahren zusammen. Denn wes das Herz voll ist, des muß der Mund überfließen... Hier hätte jetzt ein professioneller Musiker seinen Sitz im Leben: als Anleiter, Vorreiter, Vormacher, Einüber in Lob und Klage, Einbetter in die Wolke der Zeugen, die Tradition. Er muß den relativen Zustand der Gemeinde, der Christenmenschen aufspüren und darauf mit musikalischen Mitteln reagieren!

5. Ein großer Teil der Kirchenmusik verfehlt seine Aufgabe. Wenn wir Jesu Weg ernst nehmen, müssen wir uns fragen lassen, ob wir bei den Schwachen stehen. Haben wir mit Prostituierten gesungen? Sind wir zu den Obdachlosen gegangen und haben mit ihnen Lieder eingeübt? Haben wir mit Flüchtlingen musiziert? Der Weg Jesu war sicherlich kein Weg der Repräsentanz. Kirchenmusik ist aber zu einem großen, auch wunderbaren Teil der Repräsentation verkommen. Wenn die existenzielle, persönliche Kraft der Musikaussage nicht mehr erkennbar wird (Zeitwandel, Zeichenverschiebung, Kommunikationsstörung), ist sie museal-reaktionär. Nur wenn Musik als Lob und Klage erkennbar bleibt, wird sie sympathisch im Wortsinn, ist sie bei den Menschen! Hier widerspricht absolute Musik der Nachfolge Jesu.

6. Musik für die Kirche kann muß auch das Un-Erhörte zum Klingen bringen. Vision, Kairos, Gottes Reich. Wenn absolute Musik mit den Mitteln der Musik aus sich selbst heraus imponiert, darf dennoch von Stimmigkeit gesprochen werden. Gottes Reich ist wohl immer das ganz Andere. Warum spiegelt es sich also nicht auch in nicht-funktionaler-Musik? So, wie Musik auf ein Gegenüber angewiesen ist, ist Gemeinde Christi auf das Nicht-Sagbare angewiesen, das nur mit Klängen ausgedrückt werden kann ("Am Anfang war der Klang").

7. Die ökumenische Perspektive. In der Ausbildung an der HdK Berlin ist der Weg schon ansatzweise begonnen. Bei Anstellungsverträgen ist eine überkonfessionelle Haltung bereits auf katholischer Seite möglich. Kooperation in vielen Chören findet statt. Der Steglitzer Kirchenmusikkonvent ist ein ökumenischer. Es geht nicht um einen zukünftigen Einheitsbrei oder das KGV, sondern um die gegenseitige Kenntnis, das Respektieren, das Akzeptieren der jeweiligen Gestaltwerdung der Kirche Jesu Christi.

8. Die europäische Perspektive. Ein Europa mit freizügigem Arbeitsmarkt müßte auch für die Kirchenmusik gelten. Kirche und Gesellschaft divergieren jedoch von Staat zu Staat. Die Staaten sind von der Geschichte her konfessionell geprägt. Ein weiteres Nord-Süd-Gefälle ist beobachtbar. Osteuropa und Westeuropa unter verschiedenen ideologischen Systemen brachten ebenso auseinanderdriftende Berufsbilder hervor. Musik als eine allgemeine Äußerung der Gesellschaft korreliert also nicht mit Musik als gewichtigem Teil von Kirche und Gemeinde. Von z.B. den direkten Nachbarländern Frankreich und Polen könnte gelernt werden, wie mit ehrenamtlichen und nebenberuflichen Kirchenmusikern Gottesdienst gefeiert wird. In beiden, katholischen Ländern gibt es keine Kantorate wie sie in D begründet wurden. Umgekehrt könnten diese Länder lernen, wie (nur) durch professionelle Tätigkeit viele Menschen für kirchliche Arbeit begeistert werden können.

9. Die Zukunft der Kirchenmusik liegt in ihrer eigenen Qualität. Sie muß ihre Kraft aus sich heraus neu gewinnen. Das Immanente wartet wieder auf Entdeckung. Zwei Aspekte sind m.E. unterbelichtet: Klang und Rhythmus. Klang und Farbe. So wie das Visuelle in unserer Gesellschaft Überhand genommen hat, ist es Aufgabe, dem Hörorgan seinen lebenswichtigen Stellenplatz wiederzugewinnen. Hörorgan als Teil der Haut ist ja - anders als das Auge - direkt mit dem Außen verbunden. Ich behaupte, daß die Stimme der Liebsten gewichtiger ist als das Bild. In Äußerlichkeiten läßt sich mehr verbergen als mit der Stimme; lassen wir und auch eher täuschen als durch Töne!? Rhythmus ist Leben. Stillstand ist Tod. Unsere Bequemlichkeit steht gegen die Veränderung. Sich auf den Weg zu begeben erfordert immer wieder, das Vertraute zu verlassen (Vertraut den neuen Wegen...). Aber die Aufgabe ist uns gegeben. Nur Mut! Übrigens gehören auch Pausen und Stille in den Bereich des Rhythmus.

10. Es hängt von unserer Person ab, die für eine Sache eintritt. Glaubwürdigkeit, Kompetenz, Vorbild, Vertrauen. Viele Schlagworte, die dadurch nichts von ihrem Gewicht verlieren. Nur mit unserem Eintreten können wir glaubhaft arbeiten. (Ich verweise auf durch langjährige Arbeit aufgebaute gute Kontakte zum Bezirksamt, zu Künstlern und Politikern, zu Geschäften, zu der Kirche distanziert gegenüberstehenden Menschen. Sie lassen ein Bild von Kirche, von Kirchenmusik in den Köpfen entstehen, das diese Kirche und ihre Kirchenmusik sinnvoll und nicht vergeblich erscheinen läßt.) Ich bezweifle die sogenannten Sachdiskussionen, wenn sie objektiv geführt werden sollen. Gerade die Relativität nach Zeit und Raum und der jeweiligen Personen, die aufeinandertreffen, schafft eine Gunst der Stunde, die nicht nur der Sache Jesu förderlich ist. Weitere Sentenzen: Vielfältig statt einfältig arbeiten. Im Buch "Die Logik des Mißlingens" haben diejenigen Kandidaten die besseren Ergebnisse erzielt, die parallel gearbeitet haben... Kommunikativ statt autistisch. Kommunikative Kompetenz ist gefragt. (Jesus war nicht der einsame Redenschreiber, sondern ist auf die Menschen zugegangen.) Dasselbe müßte also für die Kirchen-Musik gelten. Klinken putzen und nicht warten, bis einer mal vorbei kommt. Vertrauen aufbauen statt Versicherungen verkaufen. (Über-)lebensnotwendige, psychische Stabilität läßt sich nicht erkaufen. Musik als Medium unter Menschen halt hier einen unschlagbaren Vorteil. Auf Gott bauen, nicht auf uns! Wenn ich ehrlich bin und nicht als Musiker in der Kirche, sondern als Kirchenmusiker arbeiten möchte, benötige ich Gott als Korrelat. Wenn ich ihn aus dem Blick verliere, wird Musik zum Selbstzweck. In einer gottlosen Gesellschaft mag das angehen, in der Gemeinschaft der Heiligen nicht.



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