Das Trikot / Eine Erinnerung an den vor zehn Jahren verstorbenen Fußballer Reinhard Lauck

Ich war acht, als das Wunder geschah, dass meine Mannschaft, der 1. FC Union Berlin, bis ins Pokalfinale kam und gegen den großen Favoriten Carl Zeiss Jena spielte. Natürlich wäre ich für mein Leben gern bei diesem Spiel dabei gewesen, doch mein Vater durfte mich nicht mitnehmen. "Nein", sagte meine Mutter, "du bist viel zu klein." Vater widersprach ihr nicht. "Union verliert doch sowieso", sagte er, um mich zu trösten. "Wieso fährst 'n dann hin, wenn du dir da so sicher bist?", erwiderte ich wütend. "Weil ich ... weil ich natürlich Fan bin." "Ich bin auch Fan", gab ich zurück und hätte ihm am liebsten gesagt, dass so ein Versager wie er es gar nicht verdient habe, Fan von Union zu sein. Am Vormittag des 9. Juni 1968 zog er seinen hellgrauen Sonntagsanzug an und fuhr mit einem Sonderzug nach Halle.

Am Abend dieses Tages hörte ich am Radio die Übertragung des Finales. Der Radiokommentator nannte die Aufstellung, und die Namen der Unioner klangen wie Musik in meinen Ohren: Rainer Ignaczak im Tor. Wolfgang Wruck als Libero. Meinhard Uentz im Sturm. Flügelflitzer Günther Hoge, den alle Fans nur Jimmy nannten, Jimmy Hoge. Sie alle kannte ich von den Heimspielen, die mitzuerleben mir meine Mutter zum Glück nicht verbot. "Und mit der Nummer fünf", verkündete der Kommentator, "ein neuer Mann beim 1. FC Union Berlin: Reinhard Lauck. Vor wenigen Tagen noch bei Energie Cottbus." Nach sage und schreibe nicht mal vierzig Sekunden fiel das 1:0 für Carl Zeiss Jena. Das wird ein Debakel, dachte ich, brachte es aber nicht fertig, das Radio auszuschalten, um mir die Schmach zu ersparen.

Doch dann, vor der Halbzeitpause noch, Handspiel eines Jenaers. Handspiel im Strafraum. Elfmeter. Uentz schießt. Tor. Eins zu Eins. "Eins zu Eins für Union", rief ich dem Radio zu, "ist ja unfassbar!" Aber, es sollte noch unfassbarer kommen. Nach der Halbzeitpause trumpften die Unioner auf: Jimmy Hoge mit seinen endlosen Dribblings auf der rechten Seite, Uli Prüfke als Mittelfeldregisseur und - immer wieder Lauck, Reinhard Lauck, der Neue, als schneller, wendiger, kraftvoller Vorstopper. "Dieses geschickte Ballverhalten", schwärmte der Kommentator, "diese Sicherheit in der offensiven Abwehr. Diese zielgenauen Pässe." Und dann, in der 63. Minute, das Wunder: Ralph Quest, der mit einunddreißig Jahren älteste Spieler der Unioner, schießt das Zwei zu Eins. Ich saß mit offenem Mund am Radioapparat und bangte bis zum Schlusspfiff. Zwei zu Eins! Union war Pokalsieger.

Am nächsten Abend erst kam mein Vater nach Hause. Dass er so lange weggeblieben war, fand ganz und gar nicht das Wohlwollen meiner Mutter. Was sie geradezu entsetzte, war die Tatsache, dass er mehrere Schürfwunden an den Händen und im Gesicht hatte und sein hellgrauer Sonntagsanzug voller Dreckflecken war und an den Achseln eingerissen. Vater - seit dreißig Stunden ununterbrochen im Dschumm, wie er immer wieder stolz verkündete - redete mit heiserer Stimme wie aufgezogen: "Mein Gott, das hat die Welt noch nicht gesehen, wie der Lauck aus der Abwehr heraus die Bälle ins Mittelfeld brachte und dann die Stürmer bediente. So 'n kleiner Quirliger, mit totaler Übersicht, genau so einen hat Union gebraucht." Mein Vater, selbst ein kleiner Quirliger, Schlosser von Beruf und schon deshalb, wie er oft betonte, Fan von Union, Eisern Union, die Mannschaft der Arbeiterklasse, mein Vater brachte seine Identifikation mit dem Neuen auf den Punkt: "Ja, und weißt du überhaupt, was er gelernt hat? Schlosser ist sein Beruf von Hause aus. Hat mir einer in der Halbzeitpause erzählt."

Plötzlich zog mein Vater etwas Rotweißes unter seiner Anzugsjacke hervor: ein Union-Trikot. Ein Union-Trikot mit der Nummer fünf. Das Trikot von Reinhard Lauck. "Ich nach der Verleihung der Pokaltrophäe aufs Spielfeld. Ran an Lauck. Und zieh ihm das Trikot übern Kopf. Er guckt mich ganz verwundert an. Ich sag: 'Mensch, Junge, wir sind doch Schlosser. Wir Schlosser müssen doch zusammenhalten.' Da lacht er. ,Klar', sagt er, ,wir Schlosser sind 'ne Macht.'" Vater sonnte sich in dieser Bemerkung, strahlte übers ganze Gesicht und reichte mir das Trikot. "Ist für dich, mein Kleener, zieh mal gleich über." Natürlich war es mir einige Nummern zu groß, und es stank heftig nach Schweiß. Nach Laucks Schweiß, nach Vaters Schweiß. Ich stellte mich vor den Flurspiegel und improvisierte Fußballerbewegungen. Meine Mutter hatte unterdessen ihre Sprache wiedergefunden: "Warum siehst du aus wie ... wie eine ..." Wie eine Sau, hatte sie vermutlich sagen wollen, aber das wagte sie nun doch nicht. Mein Vater war hocherfreut über diese Anspielung.

"Tja, ganz einfach: Um mich herum standen 'ne ganze Menge Hallenser, die waren natürlich für Union, besonders weil Jena ihnen den Stein weggeholt hat, Helmut Stein, ihren besten Spieler. 'Stein, du Schwein', schrien die unentwegt. 'Stein, du Schwein.' Auf einmal brüllte einer neben mir: 'Ihr hört sofort auf zu schreien. Haltet sofort die Schnauzen. Sofort!' Die machten aber weiter, als hätten sie gar nix gehört. Da dreht der durch neben mir. Prügelt auf die Schreihälse ein, die prügeln zurück, und ratzbatz hatten sie auch mich beim Wickel. Na ja, ich hab natürlich mächtig zurückgelangt, klarer Fall. Und auf einmal: Bumms, schießt Union das Zwei zu Eins. Da lagen sich alle in den Armen. Und der neben mir jubelt und brüllt: 'Ich heiß doch Stein, ihr Idioten. Was kann ich denn dafür, dass ich Stein heiße?'"

Schon am nächsten Tag ging ich mit dem Trikot auf dem nackten Oberkörper auf den Boxhagener Platz. Der Pokalsieg von Union war natürlich in aller Munde. "Ist 'n das für 'n Trikot?" fragte mich Jimmy, der eigentlich Hans-Uwe hieß, aber ein großer Verehrer von Jimmy Hoge war. "Ist von Lauck", sagte ich. Jimmy brauchte zwei, drei Sekunden, um zu begreifen. "Wie, der Neue von Union?" - "Ich war da", legte ich nach. "Wie, da?" - "Na, da", sagte ich, als wäre Jimmy begriffsstutzig, "beim Pokalfinale. Wabbel-Stadion. Mein Vater hat mich mitgenommen. Obwohl meine Mutter dagegen war. Nach 'm Abpfiff bin ich aufs Spielfeld. Lauck hat sein Trikot ausgezogen und mir zugerufen: 'He, komm mal her, du bist ja 'n Typ wie ich. Genau der Richtige für mein Trikot'" Niemand zweifelte auch nur ein bisschen an meiner Story.

Und nicht nur das: Beim Fußballspiel, das schon im Gange war, sollte ich unbedingt mitspielen. In der Vergangenheit war ich allenfalls als Verteidiger geduldet worden, wenn gerade kein besserer Spieler verfügbar war. Nun jedoch ließ man im zentralen Mittelfeld, im Bereich des Vorstoppers, extra Platz für mich. Der Ball rollte mir zu, ich flankte, genau vor die Füße Jimmys, der natürlich Stürmer war, natürlich Rechtsaußen. Tor! Meine Mitspieler umarmten mich, rieben ihre Nasen an meinem Trikot, mit dem Schweiß von Lauck, Vater und mir. Im europäischen Pokalsiegerwettbewerb hätte Union gegen FK Bor aus Jugoslawien gespielt. Aber der 'Prager Frühling' führte auch im Fußball zu Einschränkungen, Sonderbehandlungen, Boykotts, die ich allesamt nicht verstand. Jedenfalls, die Unioner mussten zu Hause bleiben.

Es war wie die Bestrafung für ein Wunder, das nicht erlaubt worden war. Zum Trost gab ich meinen Unionern den irgendwie heldenhaft klingenden Namen: die Achtundsechziger. 1969 stiegen sie aus der Oberliga ab, 1970 wieder auf. Langsam aber sicher wurde der 1. FC Union das, was man eine Fahrstuhl-Mannschaft nennt: Rauf, runter, rauf runter ... Lauck blieb trotzdem. Er spielte in jedem Spiel, nie war er verletzt oder außer Form. Ich war auch nie verletzt oder außer Form bei den Spielen auf dem Boxhagener Platz. Ich wurde immer besser. Irgendwann sagten alle Lauck zu mir. Oder Laucki. Erst 1973 verließ Reinhard Lauck den 1. FC Union, der wieder einmal abgestiegen war. Der Fußballverband hatte ihm nahe gelegt, zum BFC Dynamo zu wechseln, um weiterhin in der Nationalmannschaft spielen zu dürfen.

Der BFC Dynamo war der Polizei- und Stasiklub, der Berliner Konkurrent von Union, und sollte zur Spitzenmannschaft aufgebaut werden. Obwohl ich Reinhard Lauck irgendwie verstehen konnte, kam ich mit seinem Wechsel einfach nicht klar. Das Trikot zog ich immer seltener und schließlich überhaupt nicht mehr an. 1974 geschah noch einmal ein Wunder: Die DDR schlug in Hamburg bei der Weltmeisterschaft den übergroßen Favoriten BRD. Lauck ließ Overath und die anderen westdeutschen Spieler alt aussehen. Ich war stolz auf ihn. Und ich dachte: Im Herzen ist er bestimmt noch ein waschechter Unioner. Während dieses Spiels holte ich das Trikot aus meinem Kleiderschrank und zog es noch einmal an. Nach über zwanzig Jahren, im September 1997, begann ich für einen Dokumentarfilm über die Unioner Pokalsieger, die Achtundsechziger, zu recherchieren.

Natürlich sollte Reinhard Lauck im Mittelpunkt stehen. Ich rief ihn an. Wir verabredeten uns bei ihm zu Hause. Als ich ihn wenige Tage später besuchte, konnte er sich an unsere Verabredung nicht erinnern. Er war betrunken. Wir sprachen trotzdem über die alten Zeiten. Den Weggang zum BFC Dynamo hatte er, wie mir schien, nie so richtig verwunden. Natürlich hatte er seine Erfolge mit diesem Verein genossen, aber das Gefühl von Verrat war immer irgendwie geblieben. Und dann die Fehlentscheidungen der Schiedsrichter zugunsten des BFC, die auf Weisung des Stasi-Chefs Erich Mielke in wichtigen Spielen begangen worden waren. Er schämte sich dafür. Bei der Verabschiedung bedankte ich mich für seine Offenheit. So bald wie möglich wollte ich ihn erneut treffen. Er war einverstanden.

Da mich die Begegnung im Nachhinein mehr und mehr deprimierte, schob ich ein nächstes Treffen immer weiter vor mir her. Ich erzählte meinem Vater davon, und er sagte: "Tja, man darf sich nicht so sehr mit Menschen identifizieren, schon gar nicht mit Fußballern." Ein Monat verging. Dann las ich in der Zeitung, dass Reinhard Lauck nicht mehr lebte. Er hatte mit viel Alkohol im Blut und schweren Kopfverletzungen auf der Straße gelegen und war Tage später im Krankenhaus verstorben. Mit einundfünfzig Jahren. Ich hatte ihm bei unserer Begegnung nicht einmal von seinem Trikot erzählt. Ich hatte mir vorgestellt, es ohne Vorankündigung unter meinem Jackett hervorzuziehen und als Überraschung zu präsentieren. Beim Wiedersehen.



Torsten Schulz, Berliner Zeitung, 20./21.10.2007