Hart aber herzig

Nach dem Spiel war alles voller Bullen. Vor der Brücke über den Fluß standen sie mit Wasserwerfern und Hunden, um die Gästeanhänger daran zu hindern, Richtung Bahnhof Köpenick zu laufen. An der Straßenbahntrasse standen sie wiederum seitlich Spalier, damit niemand auf die andere Straßenseite gelangte. Speziell für letzteres gab es keinen ersichtlichen Grund. Ich fragte einen der Wärter, ob ich auf die andere Seite dürfe. Dort, genau an das Schild mit dem Namen "Wuhle", hatte ich mein Fahrrad angeschlossen. Auch ich wollte nach Hause. Alle wollten einfach nur nach Hause. Solche Tage gibt es. Ich durfte nicht. Mit Kennerblick identifizierte mich der behelmte Büttel auf Anhieb als gemeingefährliche Hooliganhorde. Von meinen Flipflops ließ er sich dabei nicht täuschen, bewiesen die ihm doch gerade, dass er einen Rädelsführer vor sich hatte, der nicht mehr wie die niedrigen Chargen rennen und treten mußte, sondern nur noch Rädel führte, Ränke schmiedete und der Truppe die taktische Marschroute vorgab.

Dazu benötigte ich natürlich kein einschlägiges Schuhwerk. Auch dass ich Haare auf dem Kopf hatte, entlarvte der szenekundige Beamte sogleich als Tarnung. Ich war ungehalten, behielt jedoch die Nerven. Normalerweise hätte ich ihn verhauen müssen, doch darauf hätten die anderen tausend nur gewartet. Genau das ist nämlich das Geheimnis der Deeskalationsstrategie: Da will so ein Flipflopheini bloß zu seinem Fahrrad und schon im nächsten Moment herrscht Bürgerkrieg. Von der Brücke her rückten nun auf beiden Seiten der Schienen Einheiten auf, um den Mob nordwärts zu drängen. Ich nutzte das holperige Manöver, um auf die andere Straßenseite zu huschen und dort in ein Wäldchen, wo ich die feindlichen Linien zu umgehen hoffte. Auch andere Hooliganhorden wuselten orientierungslos durchs dichte Gestrüpp, das vermutlich wie der Fluss hieß, nämlich Wuhle. Alles war hier Wuhle - Wuhlefluss, Wuhlewald, Wuhleheide. Ich mußte an eine meiner ersten Langspielplatten denken - Wuhle Wu von Abba, eine typische Platte für Jungen, deren geschlechtliche Identität noch auf sehr tönernen Flipflops stand.

Solchermaßen in Gedanken vertieft, trat ich zwischen den Brennesseln in einen weichen braunen Haufen. Zum Glück konnte es keine Hundescheiße sein, scannte ich die Substanz mit Hilfe weiterer Indizien auf die Schnelle, denn Hunde benutzen ja kein Klopapier. Ich mußte schleunigst raus aus diesem Wuhlewald. Tief holte ich Luft, dann zückte ich meinen Radschlüssel und brach direkt hinter dem Brückenschild "Wuhle" aus dem Gehölz. Noch ehe die Ordnungshüter mich mit ihren Knüppeln töten konnten, schwenkte ich hastig den Schlüssel, zwitscherte mit gekünstelter Arglosigkeit "mein Fahrrad", schloß auf und radelte klingelnd die Front entlang. Auf einmal hatte sich meine Position um 180 Grad gedreht: In den Augen des Gesetzes war ich nun keine Hooliganhorde mehr, sondern ein Radfahrer. Radfahrer sind zwar ein bißchen dumm, aber lieb. Man kann mit ihnen viel Spaß haben, wenn man sie Mittags wegen nicht vorhandener Radlichter anhält. Sie können sich nicht wehren und tun niemals irgendeiner Menschenseele was zu Leide.

Wegen der Sperrungen fuhr ich auf dem Radweg in der falschen Richtung hinter der marschierenden Polizeikolonne her und klingelte fröhlich mit meiner lieben kleinen Dingeldangelklingel. Diejenigen Polizisten, die mich durch ihre martialischen Helme hörten, traten zum Teil tatsächlich zur Seite. "Aha, ein Radfahrer", dachten sie sich wohl, "dann kann er ja keine Hooliganhorde sein. Schließlich trägt er Flipflops, hat Haare auf dem Kopf und stinkt nicht nach Blut, Benzin und Schießpulver, sondern nach Scheiße. So sind sie uns ja am liebsten, die braunen Horden, hähä..." Jaja, hä-hät ihr nur: Hätte ich Blumen dabei gehabt, hätte ich sie nach allen Seiten unter die Menschen gestreut, um mein Image noch zu unterstreichen. Dieses harmlose, dusselige, weiche Öko-Image, das sich auch Bankräuber zu nutze machen, die, um nett und unauffällig zu wirken, ihre Taten am liebsten mit dem Fahrrad begehen. Auch die japanische Armee bewegte sich im Pazifikkrieg auf Rädern fort. Wenn die Reifen platt waren, fuhren die Soldaten auf den Felgen weiter.

Das hatte den Vorteil, dass sie erstens durch das vieltausendfache Geklapper von den Amerikanern für anrollende Panzer gehalten wurden und zweitens keine Klingel brauchten. Um endgültig aus dem Kessel rauszukommen, mußte ich noch eine Kreuzung überqueren, auf der dicht an dicht die Polizeifahrzeuge standen. Niemand durfte durch, außer mir, dem Radfahrer. Piepiepiep - ich bin so lieb! Wie ein liebes kleines Dackelchen linste ich von unten herab herzig hoch in den weit über mir thronenden Führerstand eines Wasserwerfers und suchte Blickkontakt. "Lauf nur, Dackelchen", wiesen die Augen des Fahrers milde an, und bewiesen einmal mehr, dass auch Mörder am Ende nur Menschen sind. Ich passierte ihn dankend und klingelte höflich vor einem letzten Bullenspalier, das, wie von Zauberhand geteilt, vor mir auseinander wich, während die Fußfans wie Kriegsgefangene in einem langen und willkürlichen Elendsmarsch weitergeführt wurden zum S-Bahnhof Stalingrad. Endlich freie Fahrt! Vor lauter Übermut fuhr ich in der Baumschulenstraße drei Jugendliche und einen Schäferhund über den Haufen. Ich bin eben doch eine Hooliganhorde.

Uli Hannemann, Radzeit 05/2005, Anf. Oktober 2005