Augenzeugenbericht / "Das hätte ich nie auch nur im Entferntesten für möglich gehalten"

Ich bin 40 Jahre alt und in dieser Zeit nie straffällig geworden oder sonst wie auffällig gewesen. Meine Akte vermerkt ein vierwöchiges Fahrverbot und einen Punkt in Flensburg. Ich arbeite seit Jahren als freier Journalist und Dolmetscher/Übersetzer. Ich habe keine Glatze, bin nicht tätowiert und stehe politisch links, falls das hier überhaupt von Bedeutung ist. Am Wochenende bestand meine Aufgabe darin, unsere Gäste aus Schweden und Schottland zu betreuen und für sie zu dolmetschen. Das vor allem war auch der Grund meines Aufenthaltes im Jeton. Gegen 1.30 Uhr dann der Einsatz, der aus meiner Sicht folgendermaßen ablief. Mit dem Ruf "Alles auf den Boden, Ihr Fotzen!" stürmten vermummte Einsatzkräfte die 2. Etage. Keiner wusste, was los war, blankes Entsetzen. Wer die Lage nicht erkannte und sich nicht gleich hinschmiss, wurde sofort mit dem Knüppel bearbeitet. Es wurden keinerlei Unterschiede gemacht zwischen Männern und Frauen, schmächtigen Jugendlichen und kräftiger gebauten älteren Semestern, kurz- und langhaarigen, tätowierten oder "unbefleckten" Bürgern.

Es war egal, alles lag auf dem Boden, der teilweise übersät war mit Scherben, in den Lachen der verschütteten Getränke. Es gab auch nicht den geringsten Versuch des Widerstandes, nach maximal 30 Sekunden lag alles, und die Ersten bekamen auch schon Kabelbinder verpasst. Auf Anfragen, was das alles zu bedeuten hätte, bekam man entweder keine Auskunft oder Antworten wie: "Fresse halten, sonst kriegste richtig.", "werdet ihr schon früh genug erfahren", "stell dich doch nicht dümmer, als du bist". Anfragen zu Dienstnummern oder Verantwortlichen wurden, unter höhnischem Grinsen, mit "110" oder "Polizeipräsident Berlin" beantwortet. Leuten, die auf dem Bauch lagen, die Hände auf dem Rücken gefesselt, wurden als Antwort auf ihre Fragen mit dem Gesicht auf den Boden geschlagen. Nach zirka einer Stunde durften dann einige Leute, darunter auch ich, aufstehen, man konnte sich umsetzen. Ignoriert wurde mein Hinweis, dass ich Journalist sei und und mich auch als solcher ausweisen könne.

Nachdem ich irgendwann die Ansage "Halt jetzt endlich das Maul, sonst legen wir dich zusammen!" erhielt, gab ich auf. Ich sah mehrere Personen, die deutlich gezeichnet waren. Nach etwa drei Stunden durften die Frauen gehen. Ungefähr zur gleichen Zeit erschienen Pressevertreter und begannen, Fotos zu machen. Gegen 6 Uhr wurden alle Leute einzeln nach unten geführt. Mir wurden im Eingangsbereich alle persönlichen Gegenstände abgenommen, ich wurde fotografiert, in einen Gefangenentransporter gesteckt. Dann ging es zur Keibelstraße, dort musste man in einen anderen Transporter umsteigen, der nach Tempelhof fuhr. Nochmalige Anfragen zum Grund der Verhaftung wurden mit "Gefahrenabwehr" und "Befehl des Polizeipräsidenten" beantwortet. Nachfragen zur Art der Gefahr und was ich damit zu tun hätte, wurden ignoriert. Gegen 8 Uhr - nach zwei Stunden im Gefangenentransporter, immer noch gefesselt! - wurden die Leute einzeln aus den Knastwagen geholt. Die Einsatzkräfte in Tempelhof verhielten sich korrekt. wir durften rauchen, austreten gehen, es gab Getränke und irgendwann auch Essen.

Nach einigen Stunden verlangte ich, einen Verantwortlichen zu sprechen, der mir Auskunft über den Grund meiner Verhaftung geben könnte. Erst hieß es: "Das erfahren Sie von unserem Vorgesetzten." Später: "Das erklärt Ihnen der Haftrichter." Weder den einen noch den anderen bekam ich je zu Gesicht. Beamte meinten mir gegenüber: "Lasst Euch das auf keinen Fall gefallen, erstattet Anzeige!" Gegen 20 Uhr wurden wir entlassen, ohne einem Richter vorgeführt worden zu sein. Man bekam keine Namen, kein Schriftstück, das den knapp 19-stündigen Aufenthalt im Polizeigewahrsam bestätigt oder begründet hätte. Was ich erlebt habe, hätte ich nie auch nur im Entferntesten für möglich gehalten. Dabei sind die Schilderungen anderer Betroffener noch dramatischer. So war zu hören, dass sich Leute in die Glasscherben legen mussten und man ihnen ärztliche Behandlung verweigerte. Der Einsatz war unglaublich brutal. Was die Beamten ablieferten, erinnerte an Szenen, wie ich sie aus Fernsehberichten über den Putsch in Chile in Erinnerung habe. Innerhalb eines Tages habe ich jegliches Vertrauen in unseren Rechtsstaat und seine Organe verloren.


Steve Winkler, Berliner Zeitung, 24.08.2005