Die Frage der Verhältnismäßigkeit / Angst vor der ominösen Datei

Sein ganz persönlicher Schlusspfiff zur Partie 1. FC Union Berlin gegen Waldhof Mannheim vom 15. Februar 2002 erfolgte für Jörg erst am Mittwoch. Da verurteilte das Amtsgericht Tiergarten den 36-jährigen EDV-Berater zu 2.700 Euro Geldstrafe. Obendrein muss der Familienvater 1.000 Euro Anwaltskosten berappen. Damals war ein Leuchtspurabschussgerät, so groß wie ein Kugelschreiber, in seiner Nähe im Stadion an der Alten Försterei gefunden worden. Ein Ordner will gesehen haben, wie Jörg damit eine Leuchtkugel abgeschossen hat. Jörg bestreitet, je so ein Ding in der Hand gehabt zu haben, ein anderer Fan stand ihm sogar als Zeuge bei - dennoch wurde er bestraft. "Den Glauben an die Gerechtigkeit habe ich verloren", sagt er. Am meisten aber trifft ihn, der seit 1978 zu Union geht und einen einwandfreien Leumund hatte: Erst im Juni läuft sein Stadionverbot ab. Auch für den 37-jährigen Dirk wurde Waldhof zum Schicksal.

Er habe nur einem Freund zu Hilfe kommen wollen, der von Polizisten malträtiert wurde. Als er deren Dienstnummer habe wissen wollen, hätten unversehens "Polizisten auf mich eingeprügelt". Unioner Dirk sagt, er habe sich nur gewehrt im September 2001, auch er hatte Zeugen - doch dem Kundenberater fehlte das Geld für den Rechtsstreit. Verurteilt wurde er, unter anderem wegen versuchter Gefangenenbefreiung, zu 2.500 Euro Strafe. Er bekam bundesweit Stadionverbot bis 2006. Auch, weil er ein paar Wochen zuvor im Stadion ein bengalisches Feuer zündete. "Ehrlich", sagt der Vater von vier Kindern, "ich hatte zum ersten Mal so was in der Hand. Für einen Fehler werde ich nun behandelt wie ein Schwerverbrecher." Beide Fälle sind für Sven Schlensog, Unions Fanbeauftragten, "typische Beispiele dafür, wie schnell eigentlich harmlose Fans zu Gewalttätern abgestempelt werden.

Weder Dirk noch Jörg passten in das Hooligan-Schema". Da beginnt der Konflikt: Die Berliner Ermittlungsgruppe (EG) Hooligans spricht von rund 1.000 gewaltbereiten Fans (Kategorie B und C) in der Stadt, etwa je zu einem Drittel auf die Vereine Union, Hertha und BFC Dynamo aufgeteilt. Die Fanbeauftragten aller Clubs nennen deutlich geringere Zahlen: Nur 20 bis 30 Hooligans sollen es bei Union sein, maximal 50 nennt FC-Fanbetreuer Rainer Lüdtke. Beide glauben, die EG Hooligans übertreibe, um in Zeiten der Sparzwänge ihre 19 Beamten zu rechtfertigen. "Da geht es um deren Daseinsberechtigung", sagt Lüdtke: "Es ist seit Jahren nichts mehr in der Stadt passiert - da wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen." Neulich, beim Verbandsligaspiel Fortuna Pankow gegen Dynamo, seien fünf EG-Beamte anwesend gewesen, dabei liegen die letzten großen Krawalle zwei Jahre zurück: Nach dem Pokalspiel zwischen Dynamo und Union im Jahnsportpark wurden sogar Wasserwerfer eingesetzt.

"Ja, es ist ruhiger geworden in der Stadt", sagt Iris Tappendorf, die Leiterin der EG Hooligans: "Aber wir saugen uns unsere Zahlen nicht aus den Fingern." So würden Berliner Rowdys mittlerweile vornehmlich auswärts auffällig, weshalb Beamte ihrer Einheit auch auf Reisen gehen. So wie im Juni 2001, als der BFC in Magdeburg antrat. Damals gab es 44 Stadionverbote. Initiator war der 1. FC Magdeburg, in Absprache mit der Polizei. Viele Betroffene wandten sich an den Berliner Anwalt René Lau, der feststellte, "dass alle bundesweiten Stadionverbote über fünf Jahre liefen, mit Landfriedensbruch pauschal gleich begründet waren und die Beweise fehlten". Da seien Ermittlungsverfahren eingeleitet worden auf Grund von Fotos, auf denen Beschuldigte nur als Zuschauer zu sehen waren. Lau erreichte, dass alle Stadionverbote aufgehoben wurden - der bisher größte Sieg der Fans über die angebliche Polizei-Willkür, die sie zuhauf auf ihren Homepages beklagen.

Heute würden harmlose Delikte bestraft, die früher keiner zur Kenntnis nahm, sagt auch Anwalt Lau: "Wie Fans behandelt werden, da dreht sich mir der Magen um." Iris Tappendorf wehrt sich: "Wir setzen im Stadion nur das um, was der DFB vorgibt. Und für die Stadionverbote ist in erster Linie der Verein zuständig." Die Polizei übernimmt die Daten dann aber sofort, sie werden zentral erfasst - auch in der Düsseldorfer Datei "Gewalttäter Sport". Lüdtke sagt, so mancher auffällig gewordene Fan werde getriezt, bis er aufgebe: "Da gibt es Polizeibesuche morgens um fünf - oder Beamte erscheinen am Arbeitsplatz und sprechen das Thema vor Kunden und Kollegen an." Auf diese Weise habe in der Tat mancher wirkliche Hooligan schlichtweg "die Lust verloren und aufgegeben". Immer öfter jedoch seien harmlose Fans betroffen, sagen die Fanbeauftragten. Während Polizistin Tappendorf ihre Erfolge feiert, gilt in Fankreisen als erwiesen: Wer einmal abgespeichert ist in der ominösen Datei, der kann nie wieder unbehelligt zum Fußball gehen.

Matthias Wolf, Berliner Zeitung, 21.03.2003