Das Herz des Bösen / Erich Mielkes nachträglicher Tod

Dem Freien ist das Ende des Tyrannen eine Nachricht, dem Untertanen eine klamme Lust. Unvergesslich, wie Ulbricht starb, wie am 2. August 1973 auf allen Zeitungen der DDR schwarz gerahmt das Porträt des alten Lächlers prangte, umtextet von höchster Trauer und dem ärztlichen Bulletin, das die Verewigung des Unsterblichen bezeugte. Und der 11. November 1982: Breschnew war tot, und am Ostberliner S-Bahnhof Marx-Engels-Platz (heute Hackescher Markt) standen die Menschen in kontrolliertem Fieber Schlange nach der BZ am Abend. Eine kleine alte Dame schaute wie gebannt auf das umflorte Bild des Zaren und sagte leise: Das ist ja ... Das ist ja gar nicht schön. Nichts als eine Nachricht: Mielkes Tod. Ex-Stasi-Chef starb mit 92 Jahren einsam im Altersheim, titelte Bild. Sein böses Herz hat aufgehört zu schlagen.

Erregt hat's keinen mehr. Es war, als sei ein längst Verschollener nun amtlich für tot erklärt. Bärbel Bohley dekretierte, in den Himmel komme Mielke nicht. Erich Loest nannte den Stasi-Chef einen Hauptschuldigen daran, dass die DDR mit ihrem Sozialismus in den Abgrund fuhr. Letzteres war Mielkes westdeutschen Richtern kein Delikt. Verurteilt wurde er 1993, weil er am 8. August 1931 in Berlin an der Ermordung zweier Polizisten beteiligt gewesen war. Damals gehörte Mielke zum KPD-Parteischutz die Schüsse vom Bülowplatz sollten Vergeltung sein dafür, dass die Polizei Dutzende von Arbeitern umgebracht hatte. Heckenschütze Mielke entkam nach Moskau. Im Spanischen Bürgerkrieg spürte er hinter den Linien der Internationalen Brigaden nach Anarchisten und sonstigen Abweichlern vom Kreml-Kurs, die zu liquidieren waren.

Den Zweiten Weltkrieg überstand er in einem südfranzösischen Internierungslager. Ein wirklicher Spanienkämpfer, Wilhelm Zaisser, wurde 1950 erster DDR-Minister für Staatssicherheit. Zaisser stürzte über die Unruhen vom 17. Juni 1953, sein Nachfolger Ernst Wollweber über Kritik an Ulbricht. Vom 1. November 1953 an amtierte Mielke als Chef des MfS, das er zum Schnüffelimperium ausbaute, bis er am 8. November 1989 mit dem Politbüro zurücktreten musste. Fünf Tage darauf präsentierte er der Volkskammer sein mittlerweile klassisches Rechtfertigungsgestammel: Ich liebe doch alle ... alle Menschen. Brüllendes Gelächter! Das war Erich Mielkes eigentlicher Tod. Die Krankheit zum Tode der DDR hieß Stasi. Aber gestrige Bedrückung macht keine heutige Angst. Wohl deshalb hat sich in der Retrospektive der Untergang der DDR zum bloßen Wirtschaftsbankrott verschoben.

Und betreibt denn nicht jeder Staat seinen Geheimdienst? Und beschädigt nicht auch das heutige System peu à peu persönliche Bürgerrechte per Lauschangriff, Videoüberwachung, Datenklauberei, ohne dass wir dies verhindern könnten oder wollten? Die Höllenfahrt des Erich Mielke ist kein Anlass zur Seligsprechung der Bundesrepublik. Für die Verbrechen der Staatssicherheit hat Erich Mielke nicht gebüßt. Der bürgerliche Rechtsstaat ist ohnmächtig zur Rache an der Diktatur diese Schwäche macht ihn überlegen, wenngleich nicht immer stark. Es muss bedrücken, dass im heutigen Deutschland viele SED-Opfer schlechter leben als jene, die vom Regime profitierten. Es lohnt nicht und kann sich nicht lohnen, Opfer gewesen zu sein. Zerstörtes Leben ist so wenig nachzuholen, wie sich das Mitgefühl der Öffentlichkeit herbeikommandieren lässt. Die Neugier der Medien und ihrer Konsumenten hat meistens die Täter besucht.

Ich habe, nun muss es heraus, Erich Mielke jahrelang regelmäßig gesehen. Jeden zweiten Samstagnachmittag verbrachten wir gemeinsam im grenznahen Raum. An der Eberswalder Straße, wo bis zum 9. November 1989 der Imperialismus begann, danach nur noch der Wedding, liegt, leicht erhöht, der Berliner Jahnsportpark. Hier erfreute sich Mielke seines Riesenspielzeugs: des DDR-Dauerfußballmeisters BFC Dynamo. Da thronte der Alte auf seinem Golan und schaute über die Mauer und die tief gestaffelten Grenzanlagen weit hinein ins Feindesland. Davor, zu seinen Füßen, lehrten die weinroten Dynamos das Kickervolk aus Karl-Marx-Stadt, Zwickau oder Halle Mielkes Jubel - Sachsenring Zwickau einmal gar mit 10 : 0. Wie der Hallenser sagt: Ich schlag dich, bisde lachst!

1979 setzte sich der BFC-Spieler Lutz Eigendorf nach Westen ab. Mit welchem Stasi-Aufwand Mielke diese persönliche Kränkung zu tilgen suchte, dokumentiert Heribert Schwans kürzlich erschienenes Buch Tod dem Verräter! Dass Eigendorfs Unfalltod 1983 Mielkes Werk war, ist bis heute weder bewiesen noch widerlegt. Wirklich zugetragen hat sich aber jene Episode, die uns im Stasi-Chef einen Glasnost-Pionier erkennen lässt: Einst saß Mielke beim Fußball hinter Karoly Soos, dem Trainer der DDR-Nationalmannschaft. Soos, Ungar, ließ sich von den SED-Gewaltigen wenig sagen. Mielke echauffierte sich wie üblich über Schiedsrichter und Spielverlauf, da drehte sich Soos um und gebot: Sie jetzt ruhig! Sie nix Ahnung von Fußball! - Mielke, baff: Man wird in diesem Land doch wohl noch seine Meinung sagen dürfen! Wir geloben, wachsam zu prüfen, ob das neue Deutschland Erich Mielkes Wünschen entspricht.


Christoph Dieckmann, Die Zeit, 23/2000