Dynamos abgewickelte Kinder

Es ist mal wieder Montag. Montag abend in Marzahn. Und statt zwischen den Plattenbauwohnblocks herumzuhängen oder zu Hause vor der Glotze zu sitzen, hetzen René, Frank und ein paar andere einem Ball hinterher. Schwitzen und keuchen, dribbeln und passen, und manchmal brüllt einer: "Jetzt gib doch endlich ab", oder einer witzelt: "Mensch, war det Tor jetzt wichtig, war det wichtig!" Wichtig ist vor allem, daß das Schulamt die Halle nicht stillegt, die kleine Plattenbauturnhalle. Deren spartanische Ausstattung hätte jeden Elternverein im Westen längst auf die Barrikaden gebracht; im Osten dagegen wird improvisiert. Und so stehen da jetzt zwei seltsame Fußballtore, entstanden aus drei Kästen, einem Seitpferd und zwei Bänken. Aber das Wichtigste ist: Alle haben Spaß. "Wir hatten schon damals unseren Spaß, und wir haben heute Spaß", sagt einer, als alle umgezogen sind und wieder in der Halle hocken. Alle adrett gekleidet, alle mit Kurzhaarschnitt. Und es dauert eine Weile, bis sie ins Reden kommen.

"Wir freuen uns immer schon auf die Fahrt", sagt ein etwas Dickerer. "Da ist dann etwas Alkoholkonsum dabei. Und wenn man ein bißchen konsumiert hat, dann feuert man seine Mannschaft an." - "Und dann ein paar Sprüche", grinst ein Dritter, "gerade in Sachsen, wo sich doch alle so gewandelt haben. Da rufen wir: Alle, alle sind wir da, außer E-rich Ho-ne-cka!" - "Oder wir grölen alte Kampflieder wie: Ein Schuß, ein Tor, Dynamo!" - "Oder: Hoch auf dem gelben Wagen, sitz' ich beim Führer vorn." - "Ja, es macht Spaß, wenn du verhaßt bist. Und als Berliner bist du verhaßt. Der Mielke hat die Schiedsrichter bestochen, und Dynamo hatte immer die besten Spieler." Es war gegen Ende der achtziger Jahre, als beim Berliner Fußballclub Dynamo die ersten Fans mit kahlrasiertem Schädel auftauchten. Ausgerechnet beim Serienmeister BFC, dem Hätschelclub der Stasi, dem Lieblingsverein von Innenminister Erich Mielke.

Aber genau das war ja das Wunderbare: Starke Emotionen wie Haß und Verachtung waren so automatisch garantiert. In fremden Stadien deshalb, weil der BFC dort die Wut darüber zu spüren bekam, daß der Verband ihn kräftig bevorzugte und die besten Kicker der Republik, wenn möglich, im Kader der Berliner konzentrierte. Und bei Heimspielen war Provozieren sowieso kinderleicht. Neben Zuschauern, die wegen Stars wie Andreas Thom oder Thomas Doll Eintritt zahlten, pilgerte in den Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark im Stadtteil Prenzlauer Berg, wer sich auch in der Freizeit gern systemtreu zeigte. Und was erregte die strammen Kader auf der Tribüne da leichter als Rufe wie "Juda, verrecke!", als das Gedankengut des schlimmsten Klassenfeinds, genußvoll ausgekübelt mitten im Zentrum der heilen kommunistischen Fußballwelt? Und weil so Stimmung auf die Ränge kam und weil nach dem Spiel öfter randaliert und geprügelt wurde, ist René, der damals vielleicht fünfzehn oder sechzehn war, dann zum BFC-Anhang gestoßen, "da ist eben hin, wer ein bißchen Spaß wollte".

Schon im März 1990, fünf Monate nach dem Mauerfall, wurde der BFC dann abgewickelt. Sein Nachfolger, der FC Berlin, konnte sich später nicht einmal für die Zweite Liga qualifizieren. Ein paar Jahre später, an einem Freitag im April 1996, läuft in einer Baracke auf dem Gelände des Berliner Sportforums ein Video; neben dem Recorder warten eine Kaffeemaschine und ein Päckchen Sandino Suave, der Magenmilde aus Nicaragua. Und in der Tat sind Dieter Both, Axel Pannicke und ihre drei Kollegen ja ausgewiesene Kämpfer für das Gute, sie sind angestellt beim Fanprojekt Berlin, das sich besonders um gewaltbereite Fußballfans kümmert. Der Streifen, der gerade läuft, heißt "Unsere Kinder" und ist ein Dokumentarfilm von 1989, in dem es vor allem um Hooligans und junge Rechtsradikale in der DDR geht. Gleich am Anfang seines Films betont der Regisseur, daß diese Jugendlichen zwar für viele Unfaßbares tun, "aber es sind Menschen, die ihren Weg suchen".

Einen Tag nach dem Video ist dann Samstag, der 20. April. Und wer da morgens um halb zehn in Berlin-Lichtenberg mit dem InterRegio 2656 losfährt, der muß nur einmal durch den Zug schlendern, um sie zu entdecken: Da sitzen, unauffällig über alle Wagen verteilt, drei, vier Dutzend Jugendliche mit Ultrakurzhaarschnitt, gekleidet in flotte Markenklamotten. Bei jedem Zughalt stehen auf dem Bahnsteig Polizisten, und als die Gruppe kurz vor 13 Uhr in Erfurt eintrifft, hat sich die Polizei auf dem Bahnhofsvorplatz schon in Stärke einer Hundertschaft positioniert. Beamte in Kampfmontur, mit Helm und Schlagstock, unterstützt von einem drohend aufgefahrenen Wasserwerfer. Und dabei geht es doch nur um das Spiel Rot-Weiß Erfurt gegen FC Berlin. Um eine Partie der drittklassigen Regionalliga Nordost.

Was sich nun abspielt, sagt später der Fanbetreuer Dieter Both, sei "ein Ritual". Da wartet die Polizei mit ihrer logistischen Übermacht, mit Polaroid- und Videokameras und einem eindrucksvollen Aufgebot an Mannschaftswagen. Und da ist der Mob des FC Berlin, der die mit Abstand größte Hooligantruppe der neuen Länder auf die Beine stellt. Die Berliner, das ist inzwischen seit Jahren so, pöbeln jedoch nur auswärts, besonders bei den Traditionsclubs der früheren DDR-Oberliga wie Dresden, Leipzig, Aue und Erfurt. Es hat deshalb ziemlich überrascht, daß der Verband ausgerechnet ein so brisantes FCB-Spiel wie das in Erfurt an einem 20. April angesetzt hat, wo doch wohlbekannt ist, daß die politische Einstellung der FCB-Fans rechts ist, und wo doch an einem 20. April Adolf Hitler geboren wurde. Aber da nimmt das Ritual schon seinen Lauf. Erst treffen noch ein paar Hools ein, die mit dem Auto angereist sind. Dann geht es, von der Polizei umringt, zu Fuß ins Steigerwald-Stadion.

Es wird ein ruhiger Nachmittag, vor allem, weil statt der 500 Hools, die zum Umfeld des BFC zählen, keine 200 nach Erfurt gekommen sind. Der Block der Berliner liegt isoliert in einer Kurve, an die hundert Meter entfernt von den Erfurter Fans. Die Frühlingssonne knallt wunderbar vom Himmel. Und so ist es das höchste der Gefühle, zweimal "Happy birthday" anzustimmen ("Happy birthday, lieber Adolf") sowie "Unser Führer: Erich Mielke!". Dann ist das Spiel vorbei, die FCB-Kicker haben 0:1 verloren, es geht inmitten einer Polizistentraube zurück zum Bahnhof. Ein Berliner tritt im Zug noch schnell eine Scheibe ein, dann ist Abfahrt. Auf dem Bahnsteig bleiben Scherben und das Einfassungsgummi eines Waggonfensters zurück.

Ein paar Tage später in Rotterdam, beim Länderspiel Holland gegen Deutschland, geht es ganz anders zur Sache. Unter den prügelnden Deutschen sind auch eine ganze Reihe Berliner. Die hätten einfach die Gelegenheit genutzt, wieder einmal mit anderen Hools ihre Kräfte zu messen, sagen die Mitarbeiter vom Fanprojekt. Als Sportbild vor ein paar Monaten die FCB-Fans fast in einem Atemzug mit den gefürchteten Schalkern nannte, da waren die Hools vom Marzahner Montagskick hocherfreut. Das sei doch "einfach mal eine Bestätigung", hat Frank gesagt und sich gleich "ein paar Pokalspiele" gewünscht. Seinen Club aber plagen ganz andere Sorgen. Der Klassenerhalt ist das große Problem, und was die Heimspiele angeht, so sind diese oft Geisterspiele. Keine Fahnen, selten Anfeuerungsrufe, am Spielfeldrand 100 bis 150 Kurzgeschorene, die stumm in Richtung Rasen starren.

Kein Klima für Sponsoren. Auseinandersetzungen aber gibt es daheim im Stadtteil Hohenschönhausen nicht. Wer in einem Handwerksbetrieb oder bei einer Bank arbeitet ("Bei den Hools ist der ganz normale Querschnitt der Bevölkerung", heißt es beim Fanprojekt), der pflegt sein Hobby lieber fern der Heimat. Inzwischen ist auch klar, daß die Westberliner Hertha-Hools und die Ostberliner FCB-Hools nichts gemeinsam unternehmen, "die können nicht miteinander", und auch bei den Erstligapartien von Hansa Rostock sind die FCBer, wie lange befürchtet, bislang nicht aufgetaucht. Nach einer Welle der Gewalt beim Fußball, sagen die Fanbetreuer, seien in Berlin viele Jugendliche inzwischen auf ganz andere Szenen umgestiegen, auf Techno zum Beispiel.

So gibt es seit einiger Zeit fast keinen Hooligan-Nachwuchs mehr, und auch ältere Hools gewinnen ihren Fahrten inzwischen neue Aspekte ab. Vor einiger Zeit verblüfften FCB-Hools ihren Betreuer Pannicke, als sie im Zug liebevoll zubereitete Käsehäppchen auspackten, "da haben die richtig diniert". Vollständig klar aber ist die derzeitige Lage nicht. Zwar sei offensichtlich, daß Hooligans beim Prahlen mit ihren Erlebnissen gern übertreiben, sagt der Fanbetreuer Both, "die pflegen ganz stark ihren eigenen Mythos". Gerade in den vergangenen Monaten aber hätten sich die FCBer manchmal deutlich aggressiver gezeigt, "da war eine Brutalität, wie wir sie noch kaum erlebt haben". So sind jetzt alle gespannt, was im Juni bei der Europameisterschaft in England passieren wird, wohin auch viele vom FCB-Anhang wollen. Heraus aus der Regionalliga und hinüber ins Mutterland des Fußballrowdytums, auf der Suche nach Gegnern erster Güte.

- Namen von der Redaktion geändert.

Bernhard Landwehr, Die Zeit, 21/1996