Solidarität mit Hooligans? / In der Berliner AL ist ein Streit entbrannt um die Teilnahme am Trauermarsch der Hooligans

Die Berliner AL-Abgeordnete Lena Schraut hat letzte Woche zur Teilnahme am Trauermarsch für den in Leipzig erschossenen Mike Polley aufgerufen und dafür heftige Kritik von einigen Fraktionskollegen geerntet. Der Streit, der nun auch die diversen Parteigremien beschäftigen wird, hat jedoch über die AL hinaus eine grundsätzliche Bedeutung: Darf man mit Hooligans oder Rechtsradikalen solidarisch sein? Die taz befragte die Experten des Streits:

Eine AL-Abgeordnete, die zur Teilnahme an einem Trauerzug der rechtslastigen Hooligans aufruft: Wie paßt das zusammen?
Lena Schraut:
Ich denke, die politische Meinung dieser Leute spielt gar nicht unbedingt eine Rolle und schon gar nicht, wenn es sich in erster Linie um Jugendliche handelt. Es drehte sich um einen Trauermarsch für einen 18jährigen, der von der Polizei erschossen worden ist. Die Tatsache, daß Leute, von denen man eigentlich erwartet, daß sie ihre Konflikte mittels dreinschlagen lösen, einen Trauermarsch organisieren, war für mich ein Anzeichen dafür, daß sie eventuell zum Nachdenken gekommen sind. Zu der Tatsache, daß die Hooligans rechtsradikal sind: Wer bei der Demonstration am Samstag dabei war, hat gesehen, daß es vorwiegend jüngere Leute waren, ja auch Kinder. Ich finde es falsch, Kinder und Jugendliche auf eine politische Überzeugung festzunageln, die sie notwendigerweise gar nicht unbedingt haben müssen. Es gehört heute zum Entwicklungsstadium von Kindern und Jugendlichen, extreme politische Meinungen auszuprobieren.

Nun äußert sich dieses "Ausprobieren" von politischen Meinungen bei einigen Hooligans in brutalen Angriffen auf Ausländer. Mit diesen Leuten bist du solidarisch?
Lena Schraut:
Nicht mit den leuten, wenn sie Ausländer angreifen, sondern mit den Leuten, die einen gewaltsam zu Tode Gekommenen betrauern. Ich kann das doch nicht für eine richtige gesellschaftliche Position halten, Kinder und Jugendliche völlig verantwortlich für das zu erklären, was sie politisch denken, und der Rest der Gesellschaft schüttelt sich den Staub dieser Geschichte ab und will damit nichts zu tun haben. Zum Jahr des Kindes erzählt man, mit denen muß man reden, man kann sie nicht sich selbst überlassen. Ich denke, all diejenigen, die hier Gruppen oder Leute mit politischen Überzeugungen festnageln, sollten sich daran erinnern, daß es uns 1968 auch nicht gefallen hat, als Terroristen, Kommunisten oder Extremisten beschimpft zu werden, als wir an Demonstrationen zum Gedenken an Benno Ohnesorg teilgenommen haben. Auch er wurde erschossen anläßlich gewaltsamer Auseinandersetzungen. Ich denke, jeder von uns müßte doch einmal in die Kinderzimmer gucken, in die Schulklassen oder in die Betriebe. Da würde er die Teilnehmer dieses Trauermarsches vom Samstag sitzen sehen und da gibt es bestimmt auch einzelne darunter, die man als rechtsradikal bezeichnen kann.

Aber weder die Hooligans noch die AL agieren im luftleeren politischen Raum. Es gibt ganz krasse politische Unterschiede. Spielen die keine Rolle mehr?
Lena Schraut:
Natürlich spielen politische Unterschiede eine Rolle. Aber in diesem Fall ist nicht eine Demonstration mit politischen Überzeugungen geplant gewesen, sondern ein Trauermarsch für einen Erschossenen, von dem noch kein Mensch weiß, ob er überhaupt rechtsradikale oder sonstwelche politischen Ansichten hatte. Wenn es als Thema und Politikum darum geht, sich mit jugendlichen Fußballfans auseinanderzusetzen, wird von allen Fachleuten gesagt: Eine politische Überzeugung haben die eigentlich nicht. Denen geht es um Abenteurertum und die Gesellschaft darf sie nicht alleine lassen. Jetzt haben diese Leute einen Trauermarsch organisiert, und ich denke, da ist es nicht Aufgabe einer Partei oder anderer gesellschaftlicher Gruppen, am Straßenrand zu stehen.

Gibt es für dich eine Grenze, wo du sagst: Da bin ich nicht mehr mit einer Gruppe solidarisch, auch wenn ihr Unrecht geschieht?
Lena Schraut:
Wahrscheinlich wird es diese Grenze geben. Aber, so in den theoretischen Raum hineingesagt, denke ich: Eigentlich ist es unakzeptabel, daß man Gruppen für so gräßlich erklärt, daß man billigt, wenn ihnen Unrecht geschieht. Unrecht kann doch niemals etwas anderes auslösen als die Reaktion: Diesen Leuten geschieht Unrecht und das muß aufgehoben werden. Auch wenn dieser junge Erschossene sich an der Randale in Leipzig beteiligt hat, auch wenn er rechtsradikale Ideen hatte, geht es doch keineswegs an, daß man ihn einfach erschießt. Wo kommen wir denn da hin? Und wer legt dann fest, welche Gruppen so verwerflich sind, daß man sie auf der Straße erschießen darf?

Vera Gaserow, taz, 13.11.1990