"Keiner hält den Kopf hin" / Polizei in Ostdeutschland - unterbesetzt und überfordert

Das Unheil von Leipzig hatte sich frühzeitig angekündigt. Als nach einem Fußballspiel Anfang September Halbwüchsige die Besatzung eines Funkstreifenwagens angriffen, verloren zwei Polizeischüler die Nerven und eröffneten aus ihren Dienstpistolen vom Typ Makarow das Feuer. Und auch als Ende Oktober rund 100 rechtsradikale Jugendliche über 40 Leipziger Ordnungshüter in eine Straßenschlacht verwickelten, wurde scharf geschossen - wiederum aus "Notwehr", so die offizielle Polizeiversion. Die Schüsse damals trafen, zum Glück, jeweils nur die Beine der Krawallmacher. Am vorletzten Wochenende, als elf Polizisten den Feuerbefehl befolgten, wurde höher gezielt: Vier Hooligans brachen nach Treffern in Bauch, Lunge, Brust und Kopf zusammen. Einer, von fünf Kugeln getroffen, war sofort tot. Die Polizei, die erneut eine Notwehrsituation reklamierte, war eindeutig überfordert.

"In jeder westdeutschen Stadt, in jedem Bundesliga-Stadion wäre man mit der Situation fertig geworden, ohne daß ein Einsatzleiter den Gebrauch der Schußwaffe angeordnet hätte", kommentierte die linke Tageszeitung. Tatsächlich ist die Ost-Polizei ihren Aufgaben kaum gewachsen. Die Reviere sind unterbesetzt, viele der einst gefürchteten ehemaligen Volkspolizisten sind tief verunsichert. Immer mehr Bürger nehmen die Männer mit der alten Uniform und der neuen Kokarde an der Mütze nicht mehr ernst. Die wenigsten Polizisten wissen, was sie nach der neuen Rechtslage dürfen und was nicht, selbst an Gesetzestexten mangelt es. Der Autoritätsverlust der Truppe, deren Mitglieder noch vor gut einem Jahr von Staats wegen Demonstranten mißhandeln durften und die sich jetzt oft nicht einmal mehr trauen, Verkehrssündern Strafzettel zu verpassen, hat Spuren hinterlassen.

Die Defizite zeigen sich besonders bei den Auseinandersetzungen mit gewalttätigen Randalierern. Mal sehen Ordnungshüter tatenlos zu, wenn Autonome am Ost-Berliner Alexanderplatz Geschäfte und Lokale kurz und klein schlagen oder wenn rechtsradikale Fußballfans ausländische Mitbürger verprügeln. Dann wieder, wie jetzt in Leipzig, kommt es zu folgenschweren Überreaktionen. Die Misere beginnt schon beim Gerät. Die Ost-Polizei besitzt noch nicht genügend durchsichtige Kunststoffschilde, in deren Schutz Angreifer beobachtet werden können. Auch die Schutzhelme sind, so ein Polizeisprecher, "total veraltet". In den Wintermonaten rollen die Ordnungshüter mit uralten Lastwagen zum Einsatz, auf denen noch ein Ofen bollert. Allerorten muß unterqualifiziertes Personal eingesetzt werden.

In Leipzig trat den Rabauken eine Mannschaft entgegen, die im Umgang mit Gewalttätern völlig unerfahren war: Verkehrspolizisten, Kripoleute und sogar Angehörige des Küchenpersonals - laut Polizeichef Bernd Gasch "alles, was eine Uniform tragen konnte". Wasserwerfer, deren Einsatz womöglich den Schußwaffengebrauch verhindert hätte, konnten mangels Personal erst gar nicht anrücken. Das letzte Aufgebot, mit 219 Mann dramatisch unterbesetzt, mußte an die Front, weil viele ausgebildete Polizisten in ihrem Beruf keine Perspektive mehr sehen. "Jetzt kündigen täglich Leute, und nicht die schlechtesten", klagt Burkhard von Walsleben, Berliner Chef der Gewerkschaft der Polizei. Allein im Bezirk Leipzig haben im September knapp 1.000 Polizisten den Dienst quittiert.

Im gesamten Bundesland Sachsen, wo für die Polizei 12.000 Planstellen geschaffen werden sollen, sind derzeit nur noch 8.000 Ordnungshüter auf dem Posten. Folge: Bei der Verfolgung von Straftaten, etwa sprunghaft angestiegener Banküberfälle, laufen die Ost-Polizisten den Tätern meist vergebens hinterher. Manch einer leistet allenfalls Dienst nach Vorschrift - Folge von Wendefrust und Zukunftsangst. Weil 90 Prozent der Polizisten SED-Mitglieder waren, müssen viele, vor allem höhere Dienstgrade, mit Rausschmiß rechnen. Ordnungshüter über 50 sollen nicht als Beamte übernommen, sondern zwangspensioniert werden - was nicht eben die Motivation erhöht, in Straßenschlachten zu ziehen. "Es hält doch niemand den Kopf hin", schimpfte letzte Woche ein Leipziger Polizist, "wenn er nicht weiß, ob er in ein paar Monaten noch Uniform tragen darf."


Autor nicht bekannt, Der Spiegel, 12.11.1990