"Hoffen auf den geilen Fight"

Gewalttätige Jugendgangs ziehen marodierend durch deutsche Großstädte. Tag für Tag gehen Hooligans und Autonome, Skinheads und Türkenbanden aufeinander los. Am vorletzten Wochenende starb ein Fußballfan im Kugelhagel der Leipziger Polizei. Jetzt kündigen militante Banden Rache und "Krieg gegen die Bullen" an. Michael Heinisch, 26, wußte sehr wohl, daß die Tour nicht ungefährlich sein würde. Aber die 150 hartgesottenen Fans des ehemaligen Stasi-Fußballvereins FC Berlin wären am Samstag vorletzter Woche auch ohne den Ost-Berliner Sozialarbeiter zum Punktspiel nach Leipzig gefahren. Also reiste Streetworker Heinisch mit - sicherheitshalber. Vielleicht, so das Kalkül des Jugendbetreuers, werde seine Anwesenheit Schlimmeres verhüten, denn die Berliner Fans genießen einen denkbar schlechten Ruf. Die Jungs aus dem tristen Ost-Berliner Stadtteil Lichtenberg waren schon immer für Randale gut gewesen.

Doch Heinischs Hoffnung trog: Es kam schlimmer als je zuvor. Kaum waren die Berliner vor dem Leipziger Stadion angelangt, da trieb ein Polizeitrupp, bewehrt mit Schlagstöcken, Helmen und Schilden, die Fans zurück. "Wir haben denen unsere Eintrittskarten hingehalten", berichtet Heinisch, "aber die haben sofort angefangen zu knüppeln und mit Tränengas zu schießen." Daraufhin, so der Sozialarbeiter, seien auch seine Leute außer Kontrolle geraten. Einsatzfahrzeuge der Polizei gingen in Flammen auf, schließlich seien etwa hundert Leute "mit Holzstangen auf die Polizeikette zugelaufen". Heinisch: "Sekunden später wurde geschossen, und ich sah die Leute im Blut liegen, auch Leute, mit denen ich nach Leipzig gefahren war." Eines der Opfer, der 18jährige Mike Polley aus Malchow bei Berlin, starb noch am Tatort. Vier weitere Fußballfans wurden mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert.

Heinischs Version von der Schlacht vor dem Stadion wird von der Leipziger Polizei zwar nicht ausdrücklich bestritten, aber in wesentlichen Punkten ergänzt. Die randalierenden Berliner Fans hätten schon beim ersten Zusammentreffen auf die Polizei eingeprügelt. Die inzwischen etwa 500 Mann starke Streitmacht der Fans, bewaffnet mit Gaspistolen und Eisenstangen, sei den 219 Polizisten aus Leipzig und Umgebung weit überlegen gewesen. Beim letzten und entscheidenden Angriff der Jugendlichen, erklärt Einsatzleiter Karl-Heinz Krompholz, hätten sich die Polizisten in einer ausweglosen Situation befunden - eingekesselt von einer Horde, die Pflastersteine schleuderte und Leuchtspurmunition verschoß. Da erst habe er den Schießbefehl gegeben. Was folgte, so Krompholz, "waren keine Warnschüsse mehr, es waren ungezielte Schüsse" - aus insgesamt elf Polizeipistolen.

Nicht nur in Leipzig kam es an jenem Tag zu Ausbrüchen von jugendlichem Vandalismus. Zur selben Zeit lieferten sich etwa 550 norddeutsche Hooligans heftige Prügeleien in der hannoverschen Innenstadt. Tags darauf erlag in Düsseldorf ein Fußballfreund den Stichverletzungen, die ihm Karlsruher Fans am Vorwochenende zugefügt hatten. "Da draußen tobt ein brutaler Krieg", urteilte letzte Woche Klaus Steffenhagen, Vize-Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei. In der Tat rollt eine Welle der Gewalt durch die Städte in Ost- und Westdeutschland: In immer größerer Zahl, mit immer brutaleren Methoden verbreiten marodierende Jugendliche Angst und Schrecken. "Eine neue Dimension der Gewalt" sieht der hannoversche Fan-Forscher Gunter A. Pilz in den Ereignissen von Leipzig und anderswo. Der Soziologe macht dafür die wachsende Arbeits- und Perspektivlosigkeit in der ehemaligen DDR verantwortlich, wo überdies nach dem Wegfall der "staatlichen Unterdrückung" ein Vakuum herrsche.

Pilz: "Das Ergebnis ist ein hemmungsloses Ausleben der Gewalt." Weitere Krawalle sind zu befürchten, wenn es, wie geplant, am 21. November zum finalen deutsch-deutschen Länderspiel in Leipzig kommt. Das baufällige Zentralstadion lädt zum Vandalismus geradezu ein. Der Deutsche Fußball-Bund erwägt deswegen jetzt eine Absage oder Verlegung des Spiels. Die Randale scheint grenzenlos. Auch in den westdeutschen Großstädten entstehen immer neue Jugendbanden. Im Berliner Westen kämpfen die "Fighters", die "36 Boys" und viele andere mehr. In Stuttgart ist die "Ausländerpower" aktiv, in Frankfurt sind es die "Bomber Boys", der "Club 77" und "La Mina". In Dortmund gehen die Jungs von der "Borussenfront" auf Tour, in München "Raps" und "Teds". In Berlin, der Hauptstadt der deutschen Streetgang hat die Jugendkriminalität in den ersten sieben Monaten dieses Jahres um 150 Prozent zugenommen.

Die CDU macht die Außenseiter zum Hauptthema ihres derzeitigen Wahlkampfs. Weil im Westteil der Stadt zumeist Ausländerbanden für Schlagzeilen sorgen, verspricht Oppositionschef Eberhard Diepgen den verängstigten Bürgern: "Kriminelle Ausländer werden abgeschoben." In den westdeutschen Großstädten fahnden bereits Sonderkommissionen der Kriminalpolizei nach jugendlichen Gangster-Combos, in ostdeutschen Fußballstadien sollen demnächst Spezialeinheiten aus der Anti-Terror-Bekämpfung gegen die Schlägerbanden eingesetzt werden, die letzte Woche nach den Leipziger Todesschüssen Rache und einen "Krieg gegen die Bullen" ankündigten. Zu schaffen machen den Beamten in Ost und West vor allem die neuen Methoden der Bandengewalt: "Als ich ein junger Kerl war", erinnert sich der Stuttgarter Kripo-Mann Willi Pietsch, 39, "da hat man aufgehört, wenn einer aus der Nase geblutet hat - heute fängt man da erst richtig an."

"Die Formen der Gewalt werden immer extremer", urteilt Gerd Mokros vom Allgemeinen Sozialen Dienst in Köln: "Häufiger und früher" würden sich auch Kinder an "kriminellen Cliquen" beteiligen. Dabei seien die Hemmungen, brutal zu treten oder ins Gesicht zu schlagen, deutlich geringer geworden. Wenn es zu Auseinandersetzungen komme, so Mokros, werde so lange drauflos gedroschen, "bis sich jemand nicht mehr bewegt". Nicht nur die bloßen Fäuste, sondern immer gefährlichere Waffen kommen zum Einsatz. Neben Baseballschlägern, Messern, Gas- und Signalpistolen tauchen neuerdings auch Äxte, Molotowcocktails und asiatische Kampfgeräte wie Sicheln, Wurfsterne und sogenannte Chaku-Hölzer auf - ein im Ernstfall tödliches Arsenal. Das Repertoire des Bandenterrors reicht von der Schutzgelderpressung auf dem Schulhof über das Klauen von Bomberjacken bis zu brutaler körperlicher Mißhandlung. In München rücken Schlägertrupps zum "Homo-Treten" aus.

Großprügeleien vor Fußballstadien, Fahrraddiebstähle, Überfälle auf ahnungslose Fahrgäste in der Straßenbahn und spontane Attacken auf konkurrierende Gangs in der Nachbarschaft zählen vielerorts zum Alltag der Cliquen-Gewalt. Die Bandenszene ist keineswegs homogen. Aus vier Jugendkulturen vor allem rekrutieren sich die Gangs. Da gibt es
• deutsche Jugendliche aus sozialen Randlagen, die sich den Skinheads oder anderen rechtsextremen Trupps angeschlossen haben, um in der Gruppe jene Stärke zu gewinnen, die ihnen ansonsten fehlt,
• Fußballfans aus der Mittelschicht, die ebenfalls eher rechts stehen und die bei den Prügeleien im Umfeld der Stadien jenes Abenteuer suchen, das ihnen der bürgerliche Alltag vorenthält,
• Ausländerkinder der zweiten und dritten Generation, die sich mit der Gründung eigener, zumeist fest organisierter Cliquen gegen die wachsende Fremdenfeindlichkeit zur Wehr setzen wollen, aber neuerdings mehr und mehr aus der Defensive in die Offensive wechseln,
•  militante Punks und Autonome, darunter viele radikale Linke, die erst im offenen Konflikt mit den Neonazis oder mit der Polizei zu einer eigenen Identität gelangen.

Allerorten in der Szene herrscht Begriffsverwirrung. Skinheads im Osten Berlins etwa nennen sich selbst "Hooligans" - ein Etikett, das im westdeutschen Jugendjargon wiederum Schlägertrupps aus Mittelschichtlern markiert, die zumeist ohne auffällige äußere Kennzeichen auftreten. Welche Namen sich die lokalen Cliquen auch immer geben - aus den verschiedenen Kulturen entstehen von Stadt zu Stadt unterschiedliche Bandentraditionen. In München zum Beispiel befehden sich Gangs aus der Rapper- und der Ted-Szene; die einen stehen auf Rap-Musik, die anderen auf Rock'n'Roll. Beide Gruppen eint nur eines: Die Münchner Polizei hält sie für "kriminalistisch extrem auffällig". In Dresden, Leipzig und anderen Städten der Ex-DDR sind vor allem rechtsradikale Jugendbanden unterwegs. Der Leipziger Hauptbahnhof wird von einer mehr als hundertköpfigen Clique beherrscht - Kennzeichen: kurze Haare, Bomberjacken, markige Sprüche. Ausländer und Alternative gelten hier als vogelfrei.

"Wenn die uns anquatschen", erklärt die 15jährige Karen, "können wir das nicht leiden, die werden dann weggeknallt." Zu den Spezialitäten der Szene in Frankfurt/Main zählen multinationale Jugendbanden, die einander kaum behelligen, aber Außenstehende um so mehr drangsalieren. Das "Rippen" oder auch "Abziehen" von Jacken gehört zu den Usancen der Gangs: Wer mit einem edlen Blouson unterwegs ist, muß damit rechnen, daß ihn Jugendliche erst zusammenschlagen und dann um die teure Jacke bringen. Daß sich Ausländerkinder zu marodierenden Cliquen zusammenrotten, hat mit krimineller Energie zunächst wenig zu tun. "Die schließen sich nicht zusammen, um Straftaten zu begehen", meint der Frankfurter Kriminalhauptkommissar Lothar Herrmann. Die jungen Italiener, Türken und Griechen verbündeten sich vor allem deshalb zu Gangs, "um nicht allein dazustehen".

Mit ähnlichen Phänomenen haben es Herrmanns Polizeikollegen in ganz Westeuropa zu tun. In England sind es vor allem Pakistaner, in Frankreich zumeist Nordafrikaner, die Cliquen bilden. Im Oktober inszenierten Jugendbanden in der Trabantenstadt Vaulx-en-Velin bei Lyon einen siebentägigen Bürgerkrieg: Algerische Gangs schmissen Nacht für Nacht Brandsätze und Steine auf Polizeistreifen, plünderten Geschäfte und zündeten Autos an; schließlich lag ein kompletter Supermarkt in Schutt und Asche. Dramatischer noch geht es in den Gettos der amerikanischen Großstädte zu. Jugendbanden aus Filipinos und Mexikanern, Chinesen und Puertoricanern mischen schon im Rauschgifthandel mit. In den Gangs herrschen rauhe Sitten. Will etwa ein Latino-Junge in eine Bande aufgenommen werden, so muß er sich zuvor von drei, vier Muskelprotzen besinnunglos prügeln lassen.

Den Aufnahme- und Unterwerfungsritualen deutscher Banden ging eine Schülergruppe der Berliner Carl-von-Ossietzky-Gesamtschule nach. Einige der Pennäler waren selbst Opfer von Bandenüberfällen geworden. Das Ergebnis ihrer Recherchen: "Alle schlagen sie auf eine Person ein, und die muß das ungefähr drei bis vier Minuten aushalten. Oder sie pissen in ein Glas, und der Typ, der rein will, muß es trinken." Bei Frankfurter Banden reicht als Mutprobe der Klau einer Trophäe, also beispielsweise der bestickten Jacke einer gegnerischen Gang. Bei den Hooligans, etwa den "Sturmtruppen Mönchengladbach", zählt nur der Wille zum Durchhalten: Wer immer prügelt und niemals kneift, gehört irgendwann zu den Anführern der Clique. In den oft über hundert Mann starken Fan-Horden der Bundesliga-Klubs kennen sich viele Rabauken nicht einmal dem Namen nach.

Doch "wenn einer zum Beispiel zwei, drei Duisburger auf einmal umgetreten hat", berichtet der Düsseldorfer Hooligan Ralf Ries, 24, "dann fragt man mal: Wer ist denn das, der hat das aber super gemacht." Führer und Geführte hält nur die Idee einer bedingungslosen Kameradschaft zusammen. Tatsächlich aber ist das Binnenklima der Gangs von "Neid, Mißgunst und Machtkämpfen" bestimmt, wie der Bielefelder Jugendforscher Wilhelm Heitmeyer beobachtet hat: "Jeder will der Häuptling sein." Unter den rechten Skinheads kommt es selten zu festen Hierarchien. Maßgeblich sei allein die "aktuelle Großmäuligkeit", meint der Ravensburger Anwalt Wolfgang Weber, der schon Skins verteidigt hat. "Wer beim Koma-Saufen die besten Sprüche draufhat", weiß Weber, "der ist der Führer des Tages." Viele Skins, urteilen Kenner der Szene, seien ausgesprochen feige.

Selten nur treten sie als Einzelkämpfer auf, am liebsten dann, wenn sie in der Überzahl sind. Vorzugsweise begeben sie sich auf symbolische Feldzüge, so in diesem Sommer, als sie auf 14 jüdischen Friedhöfen in Baden-Württemberg Grabsteine umstürzten (SPIEGEL 41/1990). "Früher haben sich die Banden eher gegenseitig verhauen, heute trifft das Unbeteiligte", beobachtete in Stuttgart Kripomann Pietsch. Manche Gangs streunten nur durch die Städte, und der erste beste, der ihnen begegne, kriege dann eben "ein paar gedonnert". Weil beim Fußball-Länderspiel Luxemburg gegen Deutschland Ende letzten Monats dem Luxemburger Team kein gewalttätiger Anhang zur Seite stand, fehlte den deutschen Schlägern der erhoffte Gegner. Ersatzweise wurden Imbißbuden und Schaufenster zertrümmert und Passanten mit Flaschenwürfen und Leuchtraketen malträtiert.

Am vergangenen Dienstag demolierten gewalttätige Anhänger des 1. FC Magdeburg die hessische Autobahnraststätte Reinhardshain. Attacken auf Außenstehende "sollte man eigentlich vermeiden", findet dagegen der Düsseldorfer Hooligan Ries. Sie passen tatsächlich nicht in den schwafligen Ehrenkodex der Schlägertrupps. Aber der verbietet auch den Gebrauch von Messern, Mollis und Schlagstöcken - und dennoch gehören solche Waffen zum Prügelalltag wie das Foul zum Fußball. Anders als die klassischen Fan-Klubs, die mit Schals, Mützen und Fahnen in den Farben ihres Vereines von Spiel zu Spiel ziehen, interessieren sich die äußerlich unauffälligen Mittelschicht-Hooligans für das Geschehen auf dem Rasen kaum.

Vom letzten Aufeinandertreffen des VFL Bochum mit Borussia Dortmund berichtete im Szene-Magazin Fan-Treff ein Bochumer Hooligan: "Mitte der zweiten Halbzeit stürmten wir den BVB-Block, und als wir die Dortmunder sahen, klatschten wir sie sofort weg, und einige gingen zu Boden. Die Cops, die uns sofort zu trennen versuchten, prügelten auf uns ein, jedoch kamen wir gut davon, und man hoffte auf einen noch geileren Fight nach dem Spiel. Nach dem Schlußpfiff traf sich die Bochum-City in einem Lokal, wo die Einrichtung erst mal demoliert wurde. Als kurz darauf die Cops auftauchten, liefen wir zum Bahnhof, wo auch schon die Borussenfront wartete. Wir waren ca. 200 Mann, die Frontler jedoch enttäuschenderweise nur etwa 140. Es kam zu einem geilen Fight. Wir behielten ganz klar die Oberhand, obwohl die Dortmunder auch nicht schlecht boxten."

Solcherlei Randale erklärt der hannoversche Kriminologe Christian Pfeiffer als typischen "Protest gegen die Erwachsenen-Welt". "Viele Jugendliche", so Pfeiffer, "schaffen erst durch das Tun verbotener Dinge die für die Entwicklung ihrer Identität notwendige Distanz zu den Autoritäten der Kindheit." Die Öffentlichkeit nehme solche Regelverstöße heute lediglich kritischer als früher zur Kenntnis. Pfeiffers Fazit: "Die heutige Jugend ist nicht schlechter als die früherer Jahrzehnte." Und die war nicht eben friedfertig. Der Stuttgarter Historiker Andreas Gestrich hat am Beispiel des schwäbischen Dorfes Ohmenhausen das Brauchtum der Jugend an der Wende zum 20. Jahrhundert untersucht. Die Ohmenhäuser Buben trafen sich jeden Sonntag draußen auf dem Feld mit den Jungen des Nachbardorfes, um kräftig zu "händeln". Aus diesen Prügeleien wurde zuweilen blutiger Ernst - etwa wenn es um die Ehre der Ohmenhäuser Dorfschönen ging.

Auf dem Kampfplatz kam es zu wüsten Messerstechereien. "Die Gewaltschwelle", so Gestrich, "war erstaunlich niedrig." Regeln gab es nicht. Wenn einem Kämpfer am Ende nur "ein Bröckele Darm rausguckte", wie es ein Zeitgenosse beschrieb, dann konnte das Opfer noch von Glück sagen. Auch die Gangs und Cliquen späterer Generationen versetzten ihre Mitwelt in Angst und Schrecken. So gingen die Halbstarken der Nachkriegszeit wie auch Rockerbanden der sechziger und siebziger Jahre miteinander und mit anderen ziemlich ruppig um. Und doch unterscheiden sich die Jugendbanden des Jahres 1990 von ihren Vorgängern: Während früher die Fäuste flogen, wird im High-Tech-Zeitalter mehr und mehr mit Gaspistolen, Signalraketen und Tränengas gefeuert. Die Hemmschwelle ist in der Ära des Video-Horrors tief gesunken. Und: Stritten sich die Gangs der Nachkriegszeit noch um Mädchen, Geld oder irgendwelche Nichtigkeiten, so geht es in den multikulturellen Zonen heutiger Großstädte oft um Politik.

Nach einem Bericht des Verfassungsschutzes erschöpft sich der Rechtsextremismus der Skinheads zwar häufig im "unreflektierten Skandieren von Parolen und dem provokativen Tragen von NS-Emblemen". Doch das nimmt dem dumpfen Haß der Glatzköpfe auf die rund fünf Millionen Ausländer in Deutschland keineswegs die Gefährlichkeit. Im Gegenteil: Wer weniger reflektiert, langt um so schneller zu. Der Bielefelder Sozialforscher Heitmeyer erklärt die Gewaltbereitschaft mit einer fundamentalen Verunsicherung der heutigen Jugendgeneration. Etwa 40 Prozent der 16- bis 17jährigen, das belegen Heitmeyers Untersuchungen, neigten zu "autoritär-nationalistischem Denken". Jeder sechste verbinde damit das "Einverständnis, politische Fragen über Gewalt zu regeln". Als Hauptursache nennt Heitmeyer die jeden Heranwachsenden bedrängende "Angst, im täglichen Konkurrenzkampf um Arbeit, Erfolg und sozialen Status nicht bestehen zu können".

Allzu leicht entstehe dann bei Unterschicht-Jugendlichen das Gefühl von Ohnmacht. Und "Gewalt", so Heitmeyer, "verspricht wenigstens kurzfristig eine Befreiung aus der Ohnmacht". Derselbe Mechanismus wirkt natürlich bei ausländischen Jugendlichen, die in der Regel noch schlechtere Berufschancen als gleichaltrige Deutsche haben. Viele schließen sich Banden an, weil sich alle übrigen sozialen und religiösen Bindungen in der Fremde langsam auflösen. Das einzige, was sie von den deutschen Streetgangs wirklich trennt, ist die Nationalität. Und eben die wird zum entscheidenden Aufnahmekriterium der Clique. Nur für die Mittelschicht-Hooligans gelten solche Erklärungen nicht. Zwar skandieren auch die Fußball-Rowdys mit Vorliebe ausländerfeindliche Parolen. Doch nicht soziale, sondern allenfalls geistig-moralische Verarmung scheint hier die Wurzel des Übels. "Die Hooligans kommen aus gutbürgerlichem Hause", berichtet der Düsseldorfer Fan Ries.

Unter seinesgleichen finden sich "Hooligans, die studieren Jura oder Medizin", und viele andere mehr, die den Alltag mit Schlips und Kragen im Büro absitzen. Als kürzlich wieder einmal Hooligans durch die Stuttgarter Innenstadt stürmten, drückten sie den verdutzten Passanten eigens hergestellte Visitenkarten in die Hand: Aufdruck: "Hallo! Sie trafen soeben auf die Stuttgarter Hooligans." Bei einer so naßforschen Klientel ernten Streetworker und Sozialarbeiter mit ihren Befriedungsversuchen häufig nur ein müdes Lächeln. Deswegen meint der Deutsche Fußball-Bund, Hooligans seien "nicht mehr therapierbar". Ratlos stehen vor allem die Kommunalpolitiker in der ehemaligen DDR vor den neuerdings so massiven Ausbrüchen von Jugendgewalt. In der Dresdner Neustadt greifen Woche für Woche drei als "Jugendsturm" auftretende Neonazi-Trupps die von Autonomen besetzten Häuser an, um "die linken Schweine aufzuglitschen".

Die Betroffenen wehren sich. "Wenn dich dein Umfeld terrorisiert", meint der Dresdner Autonome Dagie, "mußt du das gleiche tun." Ohne den Schutz der Polizei wäre ein alternatives Wohnprojekt im Leipziger Stadtteil Connewitz längst von der rechtsradikalen Leipziger Bahnhofsbande niedergebrannt worden. Auch nach den Todesschüssen vor dem Leipziger Stadion am vorletzten Wochenende wurde sofort ein größerer Einsatztrupp von Polizisten nach Connewitz befohlen. Dort allerdings herrschte Ruhe - die Hooligans zogen derweil randalierend durch die Innenstadt und richteten in Geschäften und Hotels Millionenschäden an. Während die Ost-Polizei hilflos auf die neue Jugendgewalt reagiert, haben Jugendforscher erste Erklärungen für die Militanz der Heranwachsenden parat, die vom Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft härter als andere Altersgruppen betroffen sind. 230,000 Lehrstellen allein sind in den letzten Monaten in Ostdeutschland gestrichen worden.

Viele Jugendliche in der einstigen DDR, meint der hannoversche Soziologe Pilz, fielen jetzt in ein "soziales Loch". In der Freizeit herrschen Trostlosigkeit und Langeweile; nicht einmal die einstige Staatsjugend FDJ offeriert ein Minimalprogramm. In keinem der neuen Bundesländer, so Fan-Forscher Pilz, existierten derzeit "sozialpädagogische Programme, die solche Defizite ein Stück weit auffangen können". Im Westen der Republik dagegen arbeiten in jeder größeren Stadt erfahrene Sozialarbeiter im Milieu - wenn auch zumeist in zu geringer Zahl. Im Hamburger Arbeiterstadtteil Wilhelmsburg etwa ist es vor allem städtischen Sozialpädagogen zu verdanken, daß die einst berüchtigten "Wilhelmsburger Türkenboys" nun zur Demonstration ihrer Friedfertigkeit durch ihren Stadtteil joggen und in den Schulen Anti-Gewalt-Referate halten.

Und in der Stuttgarter Satellitenstadt Freiberg nimmt sich Streetworker James Bock, 41, bereits elfjährige Knirpse vor, die gerade ihre erste Bande gegründet haben, die "Killers". Bock: "Da kommen die ins kritische Alter; sie fangen an, Mädchen anzumachen: 'Hey, ich will dich ficken.' Die wissen zwar noch nicht, was das heißt, aber so ärgern sie schon mal die Mädchen." Bock lenkt die Aktivitäten der Kids frühzeitig in geordnete Bahnen. So sorgt er dafür, daß ein geklautes Mountain-Bike dem Besitzer zurückgebracht wird, ohne daß gleich die Polizei informiert wird. Vielen angehenden Bandenkriegern ist er schlicht als Ansprechpartner willkommen. Ein Patentrezept gegen kriminelle Cliquen kann auch Bock nicht bieten. Immerhin aber ist die Jugendkriminalitätsrate in Freiberg von 15 auf 4 Prozent gesunken. Stolz berichtet Bock: "Der zuständige Richter in Cannstatt jammert schon: 'Nur Straßenbahn-Schwarzfahren und Kaugummi-Klauen, so macht ihr uns ja noch arbeitslos'."


Autor nicht bekannt, Der Spiegel, 12.11.1990