Unsicher und dezimiert - die Leipziger Polizei weiß den Randalierern nicht zu begegnen / Nicht nur für die Wasserwerfer fehlt das Personal

Die Videokameras an der Hausecke in der Kleinen Fleischergasse in Leipzig sind abmontiert, das Milchglas an den Türen hinter der Pförtnerloge aber ist noch so undurchsichtig wie früher. Das ist das Überbleibsel von der Devise dieses Gebäudeblocks: alles sehen, aber selber nicht gesehen werden. In Leipzig ist der Komplex, der fast so groß ist wie ein ganzes Viertel, allerdings bekannter nach den Adressen seiner zwei anderen Eingänge: einen für den Alltag um die Ecke, dann ein Hauptportal an der Ringstraße um die Innenstadt. Das Ganze ist die sogenannte "Runde Ecke", der Sitz der ehemaligen Bezirksbehörde der Staatssicherheit. Im Anbau dieser allergeheimsten Staatsmacht von ehedem sind nach wie vor die Geheimen untergebracht, also die Kriminalpolizei, und auch die Schutzpolizei in Uniform hat hier ihre Bezirksbehörde. Über die Verbindung zwischen beiden Bastionen der Ordnung wird heute nicht mehr gerne gesprochen.

Während der stürmischen Tage zu Jahresbeginn hatte der für die neuerfundene "Öffentlichkeitsarbeit" zuständige Polizist sogar einmal behauptet, zwischen hier und dort habe es nur eine Stahltür gegeben, die aber immer fest zugewesen sei. Nun hat fast genau ein Jahr nach dem Umbruch diese ziemlich fest verschlossene Vergangenheit die Ordnungsmacht von einem Angriffswinkel her angesprungen, von der sie es am wenigsten erwartet hatte. Denn wegen der blutigen Zusammenstoße am denkwürdigen Fußball-Samstag machen Leipziger ihrer Polizei den Vorwurf, sie habe nicht nur das Unheil nicht kommen sehen, sondern sie sei selber auch so gut wie nicht sichtbar gewesen. Allein schon diese Umkehr der Vorzeichen in der Nachbarschaft zwischen den Bürgern und der Polizei ist ein bemerkenswertes Zeichen im schnellen Fluß der Veränderungen, vielleicht sogar die einzige feste Größe in diesen tagen einer aufschlußreichen Konfusion.

Die zähe Veränderung in diesem Hauptquartier zeigt ihre Zeugnisse auf Schritt und Tritt so sinnfällig vor, daß sie fast schon von der Zeitgeschichte inszeniert wirken. Im Stasi-Komplex ist jetzt das Arbeitsamt eingezogen, die Erstarrung des Lebens, auch des wirtschaftlichen, über die die Staatssicherheit wachte, hat einer Bewegung Platz gemacht, die für viele zunächst auch den Schritt in eine ungewohnt grausame Freiheit bedeutet. Das gilt sogar für die Polizei und nicht nur im Blick auf den Arbeitsmarkt. Am Schwarzen Brett der Polizeibehörde hängt eine Ankündigung: "Im Rahmen der Auflösung der Naherholungsobjekte Feldberg und Prerow werden 13 Campingwohnwagen des Typs 'Bastei 309' versteigert." Auch mit solchen eigenen "Naherholungsobjekten" soll allmählich ein Teil jenes Lebens als Staat im Staat aufgelöst werden, in dem die sichtbaren Träger oder Vollstrecker der Herrschaft zu Hause gewesen sind. Daneben sind die Aufrufe zur ersten Personalratswahl der neuen Zeit angeheftet.

Eine Liste der Kriminalpolizei wirbt mit der Parole: "Unsere Kandidaten vereinen die Erfahrung der Alten, den Elan der Jungen und das Engagement aller." Hier wird die Bruchstelle zwischen den Zeiten noch deutlicher, denn überall draußen, vor allem in der Politik ist die Paarung von "der Erfahrung der Alten und dem Elan der Jungen" in diesen tagen ja gerade nicht das, was zusammenpaßt oder was zusammenwachsen soll, weil es zusammengehöre. In der Polizei freilich ist das Nebeneinander von alt und neu, sichtbar gemacht von den neuen Kokarden an den alten Uniformen, vielleicht noch am prekärsten. Die Polizisten selber fühlen das, die Sicherheitskräfte sind verunsichert, und auch das gehört zu den Gründen für die tragischen Ereignisse des 3. November. Unmittelbar vor dem Tag der Einheit sind in den drei sächsischen Bezirken die Polizeichefs abgelöst worden.

Damit ist es dem damaligen Innenminister Diestel gerade noch gelungen, die deutscheste aller Pointen dieser Revolution zu verhindern, daß nämlich die Demonstrationen zur Erinnerung an die ersten großen Umzüge "des Volkes" von denselben Polizeioberen genehmigt und abgewickelt werden, die ein Jahr zuvor den Einsatz gegen die Demonstranten geleitet hatten. Wer sind die Helden? Bei der Verkündung der Entscheidung in Leipzig hat der Leipziger Chefinspekteur Straßenburger den Termin zu einer Verteidigungsrede benutzt, die bei einem unvorbereiteten Zuhörer den Eindruck erwecken konnte, die eigentlichen Helden der sogenannten Heldenstadt Leipzig von damals seien er und seine Polizisten gewesen. Noch vehementer freilich hat der Vertreter der neuen Polizeigewerkschaft diese Worte rhetorisch verfochten, und der Gewerkschaftler ist nicht einer der Alten, sondern einer der Jungen. Vielleicht kann es auch gar nicht anders sein, wenn junge Polizeibeamte, die sich zum Bleiben entschlossen haben, fertig zu werden versuchen mit ihrer Vergangenheit.

Nicht alle haben sich entschlossen, zu bleiben und im neuen Rhythmus Tritt zu fassen. Nach einer Verfügung des damaligen Innenministers war jedem Polizisten über Fünfzig eine auskömmliche Abfindung in Aussicht gestellt worden, wenn er bis zum 2. Oktober seinen Dienst quittiert. Neben dem Geld hat freilich auch der Hinweis geholfen, was vom 3. Oktober an die neue Obrigkeit über die Polizeitruppe befinden werde, "steht in den Sternen". Darauf haben im Bezirk Leipzig 1.500 Polizisten ihren Abschied eingereicht, weiter 480 kommen mit Wirkung Jahresende noch dazu. Das Bundesinnenministerium hat für die Zeit des Übergangs einen Einstellungstopp verfügt. Deshalb fehlen in Leipzig heute 500 Männer bei der Schutzpolizei, im ganzen Freistaat Sachsen sind fast 4.000 zuwenig. Nicht zuletzt haben am Samstag in Leipzig diese 500 gefehlt.

Der neue Leipziger Bezirkspolizeichef Gasch hat deshalb die Methode der Ausfilterung von "alten Polizisten" als übereilt, ja als Nötigung gescholten. Die Rechnung mit den vielen fehlenden Uniformträgern ist aber schon vorher in Dresden aufgemacht worden, und für jeden der ehemaligen drei Bezirke ist bis zur gesetzlichen Neuregelung vorerst eine Neueinstellung von 50 Polizeilehrlingen genehmigt. In Leipzig werden sie am Monatsende aufgenommen, für die 50 Plätze haben sich 100 Bewerber gemeldet. Doch diese Neuen stehen erst in zweieinhalb Jähren zum Dienst bereit, so lange dauert die Ausbildung. Das Spiel mit den Zahlen freilich kann auch in die Irre führen. Denn von den 7.200 Polizisten im Bezirk Leipzig, die vor einem halben Jahr noch Dienst taten, gehörten nach der DDR-Zählung auch die Angehörigen der Berufsfeuerwehr, des Strafvollzugs, der Autozulassung, der Transportpolizei und des Erlaubniswesens.

Einige dieser Sparten sind ausgegliedert und gehören nicht mehr zur Polizei: die Feuerwehr ist nun Sache der Gemeinden, der Strafvollzug gehört zur Justizverwaltung, aus der Transportpolizei ist die Bahnpolizei geworden, die jetzt dem Bundesgrenzschutz untersteht. Dieser November-Termin hat zugleich den anderen Truppenteil der Polizeimacht lahmgelegt, die Bereitschaftspolizei. Anders als im Westen haben in der DDR in dieser Polizeireserve fürs Grobe Wehrpflichtige Dienst getan, und da ein Polizeieinsatz von Wehrpflichtigen nach Bundesrecht nicht zulässig ist, sind die Mannschaften nach mehrmaliger fernschriftlicher Aufforderung zum 1. November endlich entlassen worden. Das war drei Tage vor dem Fußballspiel. Es hat nicht einmal mehr ausgebildetes Personal für die veralteten Wasserwerfer gegeben.

All diese Zahlen freilich bringen heute auch noch einen unerwarteten, geradezu unglaublichen Zusammenhang ans Licht. Polizeichef Gasch sagt, in der alten DDR habe es schon immer "zu wenig Polizei" gegeben: der Apparat der Staatssicherheit sei bis zur Monstrosität aufgebauscht gewesen, die Schutzpolizei dagegen sei unterentwickelt  geblieben. Natürlich hat die Macht des einen Apparats die Funktion der anderen Truppe nahezu überflüssig gemacht. Doch nun ist sie allein übriggeblieben, dezimiert, und Gasch ist kühn genug, zuzugeben, daß so eine richtige Staatssicherheit der Polizeiarbeit auch fehlen kann: "Auf einmal hatten wir keine Erkenntnisse aus dem Untergrund mehr; wir selber sind ja nicht konspirativ tätig." Gasch, 38 Jahre alt, ist seit Oktober Leiter der Bezirkspolizeibehörde. Die dringendste Lehre aus dem Blut-Samstag von Leipzig muß innerhalb von zwei Wochen gezogen werden, wenn am Buß- und Bettag das große Ost-West-Endspiel stattfinden soll, wieder in Leipzig.

Zur Vorbereitung wird ein hoher Polizeibeamter aus Baden-Württemberg nach Leipzig kommen. Er wird, im Verein mit den hier schon tätigen Leih-Beamten, Ratschläge in Taktik und Psychologie geben. Psychologie ist auch diejenige Wissenschaft, die ein bißchen helfen könnte, das weite, leere Feld hinter den Zahlen auszufüllen. Gerade die Frage nach den Wasserwerfern bringt diesen anderen Hintergrund ans Licht. Ein Einsatz von Wasserwerfern, so Gasch, hätte die Stadt an den Oktober des Jahres 1989 erinnert. Die Angst vor diesem Gespenst ist heute in der Polizei offenbar lebhafter als bei jenen Bürgern, die am Tag, als die Rowdies die Leipziger, Innenstadt überrannten, gerufen haben: "Warum schlägt die Polizei nicht dazwischen!" Allzu rasch ist ein altes bekanntes Gespenst abgelöst worden von einem neuen, unbekannten: dem Willen zur Gewalt dieser vermummten jungen Männer. Auf ihr Auftreten, auf ihre Seele kann man sich in diesem Teil Deutschlands noch keinen Reim machen.


Bernhard Heimrich, FAZ, 07.11.1990