Gute Nacht, Leipzig! / Polizei klagt an: "Fußball-Bosse sitzen in der VIP-Lounge, und draußen tobt Krieg"

Die Fußballkrawalle in Leipzig, bei denen am Samstag der 18jährige Mike Polley von der Polizei erschossen wurde, haben inzwischen unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. Bundeskanzler Helmut Kohl will den deutschen Fußball künftig vor den "reisenden Chaoten" schützen und das gute Ansehen dieser Sportart bewahren. Die Gewerkschaft der Polizei "ist es leid, wenn die Fußball-Bosse in der VIP-Lounge sitzen und das große Geld machen, während draußen brutaler Krieg tobt", erklärte ihr stellvertretender Bundesvorsitzender Klaus Steffenhagen. In Leipzig trat Bernd Gasch, Chef der Bezirksbehörde der Polizei, am Montag noch einmal mit "Informationen von großer Tragweite" vor die Presse.

Es rundet sich das Bild ab, wie es zu den schrecklichen Ereignissen am vergangenen Sonnabend kommen konnte: Die Polizei war der Übermacht der Hooligans weder physisch noch psychisch gewachsen. Alles, "was noch eine Uniform tragen konnte", so Gasch, war am Tage der blutigen Schlacht in der Messestadt im Einsatz, darunter auch sämtliche Kräfte der umliegenden Landkreise. Die wiederum waren somit für einen halben Tag ohne Polizeischutz. Lediglich eine 16köpfige "Besondere Einsatzgruppe", die in einem "Ernstfall das Schlimmste verhüten" sollte und für Geiselnahme und andere Dinge von hoher Brisanz ausgebildet wurde, verblieb im Polizeiobjekt.

Auf dem Hauptbahnhof stand die neugebildete Bahnhofswache (sie ist dem Bundesgrenzschutz/BGS unterstellt und arbeitet in einer Gesamtstärke von 104 Mann - die ehemalige Bahnhofspolizei hatte 520 Einsatzkräfte) etwa 300 Hooligans hilflos gegenüber. Zudem fanden die Angreifer auf einer verlassenen und ungenügend gesicherten Baustelle im Bahnhof reichlich Steine und Zaunlatten für ihren Verwüstungszug vor. Vom Bahnhof zog die Meute in die Innenstadt, wo sie Schaufenster von 31 Geschäften zertrümmerte. "Die größten Schäden wurden dort allerdings durch plündernde Passanten angerichtet", zog Bernd Gasch nach der ersten Analyse ein Zwischenfazit.

Allein im Fotoladen "Rechtnitz" in der Nikolaistraße wurden von Passanten (!!) - so ergab eine JW-Umfrage - Ausrüstungen, vor allem nagelneue Videokameras, im Wert von etwa 50.000 DM gestohlen, im Tabakladen wenige Meter weiter bezifferte die Besitzerin den Schaden auf rund 3.000 DM, die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen. Es kann nicht um einen totalen Polizeistaat gehen, sondern nur darum, daß Recht und Sicherheit in den ostdeutschen Ländern jederzeit gewährleistet sind. Schon am Sonnabend steht das nächste Heimspiel von Lok Leipzig ins Haus. Am 21. November steigt dann das Fußballfest...

Jens Weinrich, Junge Welt, 07.11.1990