Von Notwehr keine Rede / Zeugen widersprechen der Darstellung der Leipziger Polizei

Bernd Gasch, Chef der Leipziger Schutzpolizei, ist sich ganz sicher: "Der tödliche Schuß fiel in einer absoluten Notwehrsituation." Auch der sächsische Ministerpräsident, Kurt Biedenkopf, weiß es genau: "Korrekt und sachgemäß." Zeugenberichte von den Vorfällen, die am vergangenen Samstag in Leipzig zum Tode des 18jährigen Mike Polley durch eine Polizeikugel führten, ergeben indes ein von der Polizeiversion abweichendes Bild. Der Jugenddiakon der Ostberliner Erlöserkirche, Michael Heinisch, lag während der Schüsse nur wenige Meter neben Polley auf dem Boden des Geländes des Bahnhofs Leutzsch. Den Abstand zu den Schützen schätzt er mindestens auf 30 Meter. Von einer Warnung hat er nichts gehört. In ungefähr einer Minute seien 50 bis 100 Schüsse gefallen. Eine Notwehrsituation habe für die Beamten mit Sicherheit nicht bestanden.

Heinisch widerspricht auch der Darstellung, die Aktion der etwa 200 Personen außerhalb des Leipziger Georg-Schwarz-Stadions sei organisiert gewesen. Vielmehr hätten sich diese eher zufällig bei der Anfahrt zum Stadion zusammengefunden. Seine Beschreibung deckt sich mit der von Sven (Name geändert), einem 22jährigen Fan von Hertha BSC. Dieser behauptete am Montagabend, er sei mit einiges Bekannten im Auto nach Leipzig gefahren, wegen der vielen Staus auf der Autobahn jedoch verspätet angekommen. Von der Bahnpolizei Leipzig wurden sie wie andere auch vom Hauptbahnhof nach Leutzsch geschickt. Von dort habe sich dann eine größere Gruppe auf den Weg ins nahegelegene Stadion gemacht. Noch einige Meter vor dem Eingang wurden dort ganz regulär Eintrittskarten verkauft.

Ebenso wie der Diakon Heinisch befand er sich bei den ersten, die am Stadion ankamen, wo ihnen von der Polizei der Zutritt verwehrt wurde. Aus der Menge flogen dann einige Leuchtkugeln über die Beamten, was diese mit Tränengas beantworteten. Sven: "Wir versuchten es dann an einem Seiteneingang. Die Fans hatten die Arme erhoben und riefen ironisch: ´Keine Gewalt, keine Gewalt´. Plötzlich feuerte die Polizei Blendgranaten über unsere Köpfe."

Danach sei die Siutation eskaliert, "ging auch für unsere Verhältnisse die Post ab". Ein von den Beamten im Stich gelassener LKW wurde in Brand gesetzt, etwa 200 Personen hätten sich auf das Bahnhofsgelände zurückgezogen "und dort lagen jede Menge Steine rum". Außerhalb der Gleisanlagen, so hat es auch Gerd (Name geändert), der 23jährige Anhänger des FC Berlin gesehen, standen plötzlich um ein Polizeiauto etwa 15 Beamte, die sich Steinwürfen ausgesetzt sahen. "Ich hörte keine Warnschüsse. Die hielten wahllos in die Menge." Diese Aussage deckt sich mit dem Inhalt eines anonymen Briefes militanter Berliner Fußballfans, die darin zum einen zu einem Trauermarsch aufrufen, der am Samstag nach dem Spiel der Oberliga Nordost zwischen dem FC Berlin und Chemie Halle (Anpfiff: 13.30 Uhr) stattfinden soll, und zum anderen die Vorgänge vom vergangenen Samstag darstellen.

Aus dem Schreiben, gezeichnet mit "Berliner Hooligan-Szene", zitiert der Sport Informations-Dienst wörtlich: "Plötzlich schoß die Polizei ohne Vorwarnung mit gezielten Schüssen in Kopfhöhe auf uns. Sie schossen auch, als wir wegliefen, und trafen mehrere von uns dabei. Ein Berliner kam ums Leben, den sie in den Rücken geschossen haben. Wir fordern Aufklärung in diesem Mordfall! Wir wissen auch, daß wir nicht unschuldige Engel sind, deshalb wollen wir kein Mitleid, sondern eine wahrheitsgemäße Berichterstattung." Ein Mitglied einer organisierten Gruppe hat in einem lnterview mit dem Berliner Rundfunk sogar geäußert, er sei im Besitz des Projektils und von Photos, die den Todesschuß dokumentieren. Von einer Notwehrsituation zu sprechen, hält der bereits erwähnte Gerd, der sich selbst als Hooligan bezeichnet, für "völligen Unsinn. Wir waren doch auf dem Gelände und die draußen".

Dazwischen habe sich sogar ein Zaun befunden. Und der Anhänger von Hertha BSC wundert sich, warum die Polizisten nicht wie ihre Kollegen zuvor einfach weggelaufen wären: "Die hatten doch den ganzen Rückweg frei". Jörg Kramer, Polizeibeauftragter für Fußballfragen in Berlin, ist gleicher Meinung. Er hätte laut einem Interview mit der Berliner Tageszeitung (taz) in einer Situation wie dieser seine Polizeikräfte zurückgezogen "und notfalls Fersengeld bezahlt". Kramer weiter: "Aus der Ferne gesehen und mit allem Vorbehalt" halte er den Schußwaffengebrauch der Leipziger Polizei, die nach Aussagen der Berliner Kollegen mehrfach vor möglichen Ausschreitungen bei einem Fußballspiel am 3. November informiert worden waren, für überflüssig.

Norbert Thomma, FAZ, 07.11.1990