"Wir sind selbst ein Opfer der Entwicklung" / Der DFB wehrt sich nach den Leipziger Ausschreitungen gegen den Vorwurf der Untätigkeit

Was Experten seit langem befürchteten, eine tödliche Eskalation im randaleträchtigen Dunstkreis der Profifußballszene hierzulande, ist vergangenen Samstag eingetreten - bei der Massenschlacht am Rande der Partie Sachsen Leipzig - FC Berlin starb ein 18jähriger Anhänger durch eine Polizeikugel, drei weitere Fans wurden schwer verletzt. Gestern nun gingen, die zuständigen Instanzen ungesäumt in Deckung, warfen einander Nachlässigkeiten vor und schoben sich gegenseitig die Verantwortung zu. Im Zentrum der Attacken sieht sich der Deutsche Fußball-Bund (DFB): die Gewerkschaft der Polizei (GdP) wirft ihm Untätigkeit und Arroganz vor. "Die Polizei ist es leid, daß die DFB-Bosse in der VIP-Lounge sitzen, daß der DFB das große Geschäft macht und draußen brutaler Krieg tobt," empört sich der stellvertretende GdP-Bundesvorsitzende Klaus Steffenhagen. Es sei "nicht nur moralisch angreifbar, Eintritt zu kassieren und sich um die Fans dann nicht mehr zu kümmern".

Der führende Fan-Soziologe Gunter A. Pilz aus Hannover schlägt - selten genug - in dieselbe Kerbe, weist die Forderung des DFB nach einer schärferen Gesetzgebung gegen Fußballrowdies zurück. Der DFB stünde "vielmehr stärker in der Pflicht, sich an sozialpädagogischen Maßnahmen und Programmen zu beteiligen." Starker Tobak für Wilhelm Hennes, den DFB-Sicherheitsbeauftragten. Hennes, im Zivilberuf Präsident des Landgerichts Aachen, empfindet die Vorwürfe von GdP-Sprecher Steffenhagen als "lächerlich" und kontert: "Der DFB kann doch keine Hooligans verfolgen oder gar festnehmen, er ist selbst ein Opfer dieser Entwicklung. Wir sollten besser gemeinsam überlegen, wie dieser Krieg zu verhindern ist." Bereits heute inspiziert der DFB-Funktionär das Leipziger Zentral-Stadion, das brisanterweise am 21. November auch Schauplatz des eher sinnfreien Nostalgieduells der DFB-Elf gegen eine ostdeutsche Auswahl sein wird.

Im Gepäck führen die Sicherheitskommissare aus der Frankfurter Fußballzentrale einen Katalog mit Vorbeugemaßnahmen, der den Kollegen des noch existierenden Deutschen Fußball-Verbandes (DFV) sowie der örtlichen Polizei und der Stadionverwaltung präsentiert wird. Per Kurzschulung und via Amtshilfe, so deutet Hennes an, soll den in Sachen Fan-Randale ebenso unerfahrenen wie verunsicherten Ostbehörden nun eiligst westliches Know-how vermittelt werden. Dabei muß der in zahlreichen Großturnieren erprobte DFB-Stratege derzeit selbst befürchten, die Kontrolle über die organisierten Krawallmacher zu verlieren. Etwa so wie beim EM-Qualifikationsspiel in Luxemburg am vergangenen Mittwoch, als "die Auseinandersetzung eine neue Dimension" erreicht habe. Hennes räumt ein, erstmals von einer Eskalation der Gewalttätigkeit überrascht worden zu sein. "Das erstaunte uns, denn im Vorfeld des Luxemburg-Spiels gab es keinerlei Anzeichen dafür. Dort herrschte nur noch Gewalt um der Gewalt willen."

Im Gegensatz zu früheren Ausschreitungen, bei denen es stets gegen kalkulierbare Feindbilder wie Holländer und Briten ging, schlagen die Hooligans neuerdings wahllos zu - "deshalb ist künftig mit allem zu rechnen." Schon nach dem sommerlichen WM-Spektakel in Italien rieten Fan-Polizisten und DFB-Sicherheitsexperten zur Aufrüstung, etwa durch eine bundesweite Datei zur Erfassung gerichtskundiger Rädelsführer. Im Bundesligabereich sind die wenigen kriminellen Köpfe der Raudauszene fast durchweg polizeibekannt. Geschulte Beobachter und Mittelsleute spielen den Behörden meist frühzeitig Informationen über interne Aufmarschpläne zu, entsprechend massiert tritt die Ordnungsmacht bei der betreffenden Partie auf. Ganz anders stellt sich die Situation in den neuen Bundesländern dar - dort tobt sich, so Fan-Forscher Pilz, ein Riesenpotential an frustrierten Jugendlichen aus. "230.000 junge Leute wurden aus ihren Lehrstellen gekündigt. Das Gewaltpotential wird sich noch verschärfen." Auch Polizeiexperten machen bereits Unterschiede aus zwischen den Prügelbrüdern Ost und West.

Während die westlichen Yuppie-Randalierer aus Gründen des Selbstschutzes meist auf den Einsatz lebensgefährlicher Waffen verzichten, so ein Bundesliga-Einsatzleiter, liege die Hemmschwelle im Osten deutlich niedriger. Dort mache man, wie das Beispiel Leipzig zeigte, auch von Eisenstangen, Messern, Fahrradketten oder Baseballschlägern rigoros Gebrauch, und die per Versandhaus erhältliche Pyrotechnik wird gleich kofferweise mitgeführt. Trotz des neuen Ost-West-Feindbildes, das professionelle Szenekenner entdeckt haben, soll der deutsch-deutsche Bruderkick in zwei Wochen reibungslos abgewickelt werden. Für den erforderlichen Polizeiaufwand wird garantiert, der ernüchterte Experte Hennes wandelt sich vorsorglich zum Hardliner: "Wenn ein Land wie Deutschland mit solchen Randalierern nicht fertig wird, wäre das ein Armutszeugnis." Ähnliche Ängste treiben neuerdings auch Helmut Kohl um - der Bundeskanzler sei besorgt über die gewalttätige Entwicklung, ließ Kanzleramtsminister Rudi Seiters gestern wissen. Und kündigte ein Gespräch über die Krawalle mit den Spitzen des DFB an.


Thomas Kistner, Süddeutsche Zeitung, 06.11.1990