Tödliche Rollenprobleme / Die Leipziger Polizei und die Schüsse auf Hooligans

Die Schüsse von Leipzig sind nicht nur das Problem der Hooligans, sie sind vor allem das Problem der Polizei. In jeder westdeutschen Stadt, in jedem Bundesliga-Stadion wäre man mit dieser Situation fertig geworden, ohne daß ein Einsatzleiter den Gebrauch der Schußwaffe angeordnet und ohne daß seine Einsatzkräfte diesen kopflosen Befehl durch gezielte Schüsse auf die randalierenden Fußball-Fans ausgeführt hätten. Die Leipziger Polizei war mit der Situation ganz offensichtlich überfordert. Im Polizei- und Überwachungsstaat DDR hat sie weder Deeskalationskonzepte gelernt noch den Umgang mit Randale. Sie ist mit einer neuen Situation konfrontiert, der sie auch deshalb nicht gewachsen war, weil die Ordnungshüter der ehemaligen DDR ohnehin stark verunsichert sind.

Wie will eine Polizei, die angesichts ihres immensen Autoritätsverlustes darüber klagt, daß sie es kaum noch schafft, Strafmandate im Verkehr durchzusetzen; wie will diese Polizei, die noch kein Selbstbild von ihrer neuen Rolle im demokratischen Staat entwickelt hat, souverän und maßvoll in einer schwierigen Situation entscheiden? In einer Situation, in der sich die Hooligans womöglich auch noch moralisch zur Randale berechtigt sehen, da sie ja gegen eine Polizei anrennen, die jahrzehntelang die Befehle des SED-Regimes exekutiert hat und heute häufig noch von den "bewährten" Kräften angeführt wird. Das Prekäre an den Leipziger Krawallen ist jetzt, daß die von Oberrat Krompholz befohlenen Schüsse Modellcharakter erhalten könnten.

Den Beifall von bierseligen Schlagetots und Hau-Drauf-Populisten hat die Polizei ohnehin schon erhalten. Nur mit harten Konsequenzen gegen den verantwortlichen Einsatzleiter und die schießenden Ex-VoPos kann jetzt signalisiert werden, was die Schüsse von Leipzig waren: eine polizeiliche Katastrophe. Schon die wenigen Sätze des Einsatzleiters in der Pressekonferenz haben jedem deutlich gemacht, wie wenig dieser Mann seiner Aufgabe gewachsen ist und wie wenig er dem Bild des vorsichtig-intelligenten Polizisten entspricht, der notfalls auch mal zum Rückzug bläst. Die ersten Kommentare und Reaktionen neigten fatal dazu, die allgemeine Brutalität der Fußballfans zu bejammern und den Verlust der schönsten Nebensache der Welt. Die Brutalität, die eine zunehmende soziale Deformation unserer Gesellschaft produziert, ist aber nur das eine Problem. Verunsicherte durchgedrehte Panik-Polizisten sind das andere.


Manfred Kriener, taz, 06.11.1990