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"Wann gibt es den ersten Toten?" hatte ein Leipziger
Polizist nach den Ausschreitungen am vorletzten Wochenende warnend gefragt, bei denen zwei Rechtsradikale durch Schüsse eines angegriffenen Polizisten verletzt worden waren. Seit Sonnabend ist die Antwort auf diese Frage
bekannt: Bei stundenlangen gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Hooligans und der Leipziger Polizei am Rande des Fußballspiels zwischen dem FC Berlin und Sachsen Leipzig wurde der 18jährige Mike P. aus Malchow bei Berlin
getötet. Vier andere junge Männer wurden durch Schüsse aus Polizeipistolen schwer verletzt. Der Getötete und die Verletzten sollen zur inzwischen berüchtigten Fan-Gemeinde des FC Berlin gehört haben. Mike P. galt eher als ein
"Einsteiger" in diese Szene der rechtsradikalen Hooligans. Er wurde von einer Polizeikugel in den Kopf getroffen und war nach Polizeiangaben sofort tot.
Bislang ist unklar, welcher Beamte die tödlichen Schüsse
abgegeben hat, denn, so die Leipziger Polizei, in einer Situation zahlenmäßiger Unterlegenheit hatten sich die Beamten einem allgemeinen Angriff gegenübergesehen. Mehrere Polizisten zogen ihre Dienstpistolen. Einige zielten in
die Luft, andere schossen auf die angreifenden Hooligans. Mit den gewalttätigen Auseinandersetzungen und den Schüssen am Wochenende hat eine seit Wochen schwelende Diskussion über die Unfähigkeit der Leipziger Polizei eine
neue, erschreckende Dimension erreicht. Noch einen Tag vor dem Fußballspiel hatte der verantwortliche Einsatzleiter, der Stabschef des Leipziger Polizeikreisamtes, Oberrat Krompholz, gegenüber den Stadtverordneten und seinen
Vorgesetzten von der Bezirksbehörde die Verantwortung für die Sicherheit in der Stadt abgelehnt. Hintergrund: Die Bereitschaftspolizei in der DDR rekrutierte ihre uniformierten Kräfte bisher vorwiegend aus Wehrpflichtigen.
Doch diese Wehrpflichtigen wurden zum 1.11. aus dem Polizeidienst entlassen, da sie nach dem Bundesrecht als Soldaten keine polizeilichen Aufgaben wahrnehmen dürfen. Konkrete Folge für Leipzig am Wochenende: Obwohl mit
gewalttätigen Auseinandersetzungen beim Fußballspiel zu rechnen war, waren insgesamt nur 219 Polizisten rund ums Stadion im Einsatz. "Mehr Leute hatten wir einfach nicht", so ein Polizeisprecher zur taz.
Verstärkung aus anderen Städten sei nicht herbeizuholen gewesen, da die Polizei in Dresden und Chemnitz selber mit Einsätzen bei Fußballspielen beschäftigt war. Amtshilfeersuchen an die Polizeien anderer Bundesländer kamen
nicht zustande, da das sächsische Innenministerium, das solche Unterstützung hätte anfordern können, faktisch noch gar nicht existiert. Die Folgen waren am Sonnabend verheerend: Schon gegen Mittag gab es erste Schlägereien auf
dem Leipziger Hauptbahnhof, als sich Berliner Hooligans dagegen wehrten, daß sie von der Polizei abgefangen und aus der Innenstadt heraus zur nahe gelegenen S-Bahn umgeleitet wurden.
Bei der Schlägerei wurde ein
Polizist verletzt. Die Hooligans verließen wenig später die S-Bahn, demolierten Schaufenster und warfen einen Imbißstand um. Circa 50 Jugendliche wurden dort in Sicherheitsverwahrung genommen. Vor dem Fußballplatz kam es erneut
zu Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und den Fußballfans. Nur mit großer Mühe gelang es der Polizei, eine Pufferzone zwischen rivalisierenden Hooligans aufrechtzuerhalten. Die Situation spitzte sich zu, als gegen 14 Uhr
etwa 400 Jugendliche aus dem anliegenden S-Bahnhof Leipzig-Leutzsch eintrafen und in Richtung des Stadions zogen, in dem das Spiel mit 25minütiger Verspätung bereits angepfiffen worden war. Die Hooligans feuerten Raketen und
Feuerwerkskörper ab und versuchten vergeblich, gewaltsam in das Stadion zu gelangen.
Nachdem die vor dem Stadion aufgebauten Polizeiketten massiv mit Raketen und Reizgas angegriffen worden waren, ließ Einsatzleiter Krompholz Tränengas einsetzen, was - so seine eigene Darstellung - "wunderbar klappte".
Beim weiteren Vordringen gegen die Hooligans geriet die zahlenmäßig unterlegene Polizei am Leutzscher Bahnhof jedoch in die Klemme. Sie wurde von zwei Seiten von den Hooligans eingekesselt, mit Pflastersteinen und Raketen
befeuert und mit Eisenstangen angegriffen. In dieser Situation gab der Einsatzleiter den Befehl zum Einsatz der Schußwaffe. Erst nach einer Weile waren Stimmen zu hören, daß es dabei Verletzte gegeben habe. Schließlich kamen
einige Jugendliche mit erhobenen Hinden aus der Seitenstraße und teilten der Polizei beinah geschäftsmäßig mit, daß sie einen Toten hätten.
Offenbar ohne sich weiter um den Erschossenen zu kümmern, zogen sie sich wieder
zurück und verließen mit der nächsten S-Bahn ungestört den Schauplatz des Geschehens. Von denen, die an dieser Stelle in die Auseinandersetzungen verwickelt waren, wurde kein einziger von der Polizei festgenommen. Der Trupp der
Hooligans zog danach ins Stadtzentrum und verwüstete dort ganze Straßenzüge. In insgesamt 31 Geschäften wurden die Scheiben zerschlagen und die Auslagen geplündert. Eine Gruppe versuchte dann, auf dem Bahnhofsgelände das
Gebäude der Transportpolizei zu erstürmen. Auch hier zogen die zahlenmäßig unterlegenen und offenbar völlig überraschten Beamten die Waffen und schossen, wobei jedoch niemand verletzt wurde.
Danach zerstreuten sich die
Hooligans wieder in verschiedene Richtungen. Die Bilanz dieses Samstags: ein Toter, vier schwerverletzte Hooligans, ein verletzter Polizist, 75 Festgenommene, erheblicher Sachschaden. Während die Leipziger Staatsanwaltschaft
die Ermittlungen über die tödlichen Auseinandersetzungen vom Wochenende aufgenommen hat, begann am späten Samstag abend bei einem Treffen zwischen der Polizei und den Verantwortlichen der Stadt eine erste Diskussion darüber,
wie ähnliche Gewalttätigkeiten in Zukunft vermieden werden könnten. Die Auseinandersetzung wird um so dringlicher, je näher ein nächster möglicher Kulminationspunkt in zeitliche Nähe rückt: Am 26. November ist ein Fußballspiel
zwischen der bundesdeutschen Nationalmannschaft und einer Auswahl der früheren DDR in Leipzig geplant.
Stefan Schwarz, taz, 05.11.1990
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