| Früher Sonnabendnachmittag im Georg-Schwarz-Sportpark von Leipzig. Oberliga-Spiel FC Sachsen - FC Berlin. Die Berliner Fans werden in die neuerbaute Absperrung für Anhänger der Gastmannschaften in der Südkurve geführt. Während Polizeikräfte diesen Einmarsch kontrollieren, durchbrechen Leipziger Hooligans den Eingang am Vereinshaus und machen sich an der linken Seite der kleinen Tribüne breit. Der Anpfiff um 14 Uhr bleibt aus. Wortgefechte zwischen verschiedenen Gruppen, "Sieg heil!"-Rufe. Die Polizei treibt die Berliner Gruppe in die Ecke, um den Sicherheitsabstand zu vergrößern, bringt sie schließlich aus dem Stadion. Einzelne Raketen gehen hoch. Echte Zuschauer werden unruhig. Auch eine Leipziger Anhängergruppe wird aus dem Stadion gebracht. Mit 24 Minuten Verspätung beginnt das Spiel. Doch draußen ist inzwischen die Hölle los.
Einzelheiten aus dem Bericht vom Stabschef der Leipziger Polizei, Oberrat Karl-Heinz Krompholz, der den Gesamteinsatz leitete: Gegen 12 Uhr rotten sich auf dem Hauptbahnhof 30 bis 50 Berliner Hooligans zusammen, auf dem Sachsenplatz sind es 50 bis 100 Leipziger. Gegen 13 Uhr vereinigen sich beide Gruppen. Einem weiteren Zug entsteigen nach gewaltsam erzwungenem Zwischenhalt in Halle mit Steinen bewaffnete Rowdys. Schon auf dem Weg zum Stadion gibt es Auseinandersetzungen mit der Polizei. Schaufenster werden zerstört. Etwa 50 Randalierer werden in Gewahrsam genommen. Als die Polizeikräfte im Stadion Ordnung geschaffen haben, wird gegen 14,15 Uhr vom Bahnhof Leutzsch die Ankunft von 300 bis 500 Personen gemeldet, die zum Haupteingang des Stadions wollen. Die Polizeikräfte werden neu formiert.
Gegen die zahlenmäßige Übermacht wird Reizgas angewendet, um tätlichen Angriffen und Feuerwerkskörpern begegnen zu können. Es gelingt, die Hooligans zum Bahnhof zurückzudrängen. Aber man schafft es nicht, sie von dort abzutransportieren. Der Mob bewaffnet sich mit Schottersteinen, Eisenstangen, versucht noch einmal über die Pettenkoferstraße zum Stadion zu marschieren. Die Polizei ist diesem Angriff nicht gewachsen, muß, sich zurückziehen, wird eingeklemmt. Mit Reizgas wird keine Wirkung mehr erzielt. In dieser Situation gibt der Einsatzleiter den Befehl zum Schußwaffengebrauch. Gezielt? Er sagt: "Jeder weiß, daß zuvor ein Warnschuß abgegeben werden muß. Ein Zielen war unter den Bedingungen gar nicht möglich." Es fallen Schüsse. Einige Randalierer geben auf. Andere fahren unerkannt in die Stadt zurück.
Aber bald verbreitet sich: Einige Hooligans sind von den Schüssen getroffen zusammengebrochen. Der 18jährige Berliner Mike P. wird von einer Kugel im Gesicht getroffen. Er bricht zusammen. Blut schießt aus der Wunde. Jede Hilfe kommt zu spät. Er stirbt kurz darauf. Freunde legen ihm eine Jacke über das blutverschmierte Gesicht. Der am 23. April 1972 geborene Berliner war offenbar Anhänger des ehemaligen Stasi-Klubs FC Berlin. Später gibt die Polizei bekannt, daß durch die Schüsse drei weitere Menschen schwer- und sechs leichtverletzt wurden. Unterdessen geht die Zerstörungswut weiter. Ein Mannschaftswagen, ein Polizei-Lada sowie ein Zivil-Trabant werden angesteckt. Außerdem rund 15 Zivil-Fahrzeuge. 80 Personen werden festgenommen. Doch das ist längst nicht alles. Während das Spiel "ordnungsgemäß" zu Ende geht, ist in der Innenstadt der Teufel los.
Augenzeugen berichten: Gegen 16 Uhr werden am Brühl Straßenbahn-Türen aufgerissen. Ein Mann: "Etwa 50 junge Männer vermummten sich mit Schals und Kapuzen, rannten zwischen Autos quer über die Fahrbahn zu den Kiosken am Konsument-Warenhaus, zertrümmerten sie, nahmen mit, was ihnen in die Hände kam, warfen die Fenster des Warenhauses ein." Danach ziehen sie in Richtung Innenstadt. Am Sporthaus prankt ihnen der Slogan "Wir sind am Ball" entgegen. Wenig später liegt alles in Scherben. In weiteren Geschäften werden die Schaufenster zerschmissen. Im Parkhotel wird randaliert. Die Nikolaistraße sieht aus, als ob ein Orkan gewütet hat. Blaß und zitternd die Verkaufsstellenleiterin der Schmuck-Vitrine.
"Während des Bedienens wurden mir die Fenster zertrümmert, gerade ausgelegter Schmuck gestohlen. Wieviel, das kann ich nicht sagen. Ich habe auch eine Waffe gesehen. Ob sie echt war, weiß sie nicht. Ich hatte nur Angst und konnte mir keine Einzelheiten merken. Ich glaube, es können bis zu 200 gewesen sein. Sie haben gedroht, daß sie noch einmal wiederkommen." Von Polizei weit und breit keine Spur. Sie und weitere Geschäftsleute warten und hoffen, daß Handwerker kommen, um eingeschlagene Fenster zu verbarrikadieren. Bis dahin müssen sie Wache stehen, damit ihre Läden nicht noch mehr ausgeplündert werden. Auf einer Pressekonferenz, Sonnabend um 19 Uhr im Volkspolizei-Kreisamt Dimitroffstraße, gab Oberrat Krompholz die vorliegenden Fakten bekannt. Er mußte zugeben, daß man auf solche Ausschreitungen nichtvorbereitet war.
Peter Hennig, Fußballwoche, 05.11.1990
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