Der Todesschuß

"Deutschland! Deutschland!" skandierten die Fußballfans im Ostteil Berlins, wenn sie auf ihrem Weg aus dem Stadion an der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik vorbeikamen. Das war für die DDR-Staatssicherheit, die sich in Mannschaftsstärke unter das Volk gemischt hatte, jedesmal ein Augenblick von höchster Brisanz. Denn jedermann wußte, daß mit diesem Ruf keine Fußballmannschaft angefeuert, sondern nach einem neuen Deutschland verlangt wurde. Jetzt ist dieses neue Deutschland da. Und mit ihm die Freiheit für jedermann. Doch sie hat nicht nur die Grenzen nach außen geöffnet, sondern bei manchem auch innere Kräfte freigesetzt, die bislang durch Angst und Abschreckung mühsam im Zaum gehalten wurden.

Wenn man erlebt, wie es viele verständlicherweise drängt, ihren Nachholbedarf an Leben zu befriedigen, mußte man eigentlich darauf gefaßt sein, daß nicht nur schnellere Autos gekauft und aus Mangel an Erfahrung gleich wieder zu Schrott gefahren werden, sondern auch sonst mancherlei Dinge passieren, die mit Freiheit nur insofern etwas zu tun haben, daß man Gewalt aufwenden müßte, um sie zu unterdrücken. Und warum sollte es jetzt, wo sich alles zwischen Ost und West so schnell normalisiert und egalisiert, ausgerechnet auf dem Fußballplatz anders zugehen? Überraschend ist es also nicht, daß es nun schon zum wiederholten Mal ausgerechnet in der "Heldenstadt" Leipzig zu Randale und Ausschreitungen von Hooligans kam, sondern erstaunlich ist, daß man darauf immer noch nicht besser vorbereitet ist. So kesselte nicht etwa die Polizei die gewalttätigen Jugendlichen ein, sondern fand sich ihrerseits in einem Kessel der Gewalt wieder.

Daß dabei bedrängte Polizisten in ihrer Not die Dienstwaffe zogen und einen Aufrührer erschossen, drei Menschen schwer und sechs andere leicht verletzten, ist schlimm und tragisch. Viel schlimmer aber ist, daß es zu solch einer Situation überhaupt kommen konnte. Hier hat nicht ein einzelner Polizist versagt, sondern das gesamte Ordnungsgefüge. In Berlin, wo die Brutalität der autonomen Szene aus Kreuzberg in den letzten Monaten gelegentlich auf den Prenzlauer Berg übergriff, hat man inzwischen reagiert. Dort steht die geballte Westerfahrung im Umgang mit Demonstranten auch im Ostteil zur Verfügung. Mußte es also wirklich erst einen Todesschuß in Leipzig geben, damit man allenthalben begreift, daß Deutschland nicht mehr am Brandenburger Tor endet?


Autor nicht bekannt, Neue Zeit, 05.11.1990