Zurück bleiben ein Toter und viele Fragen / Über die Schläger von Leipzig und ihre Motive wird noch gemutmaßt

Die Leipziger Polizei ist ratlos über den Ausbruch von Gewalt zur Zeit eines Fußballspiels, der a Samstag zu einem Todesopfer geführt hatte. Verwirrung stiftet vor allem der Umstand, daß in der Stadt, die vor einem Jahr als Ausgangspunkt der politischen  Demonstrationswelle ohne  Blutvergießen Geschichte gemacht hatte, ausgerechnet ein beliebiger Sporttermin zu solch einem Zusammenstoß führen konnte. Leipziger, die den Aufruhr in Sichtweite erlebt haben, äußerten den Argwohn, es habe sich gar nicht um einen Auftritt von einheimischen Sport-Rowdies gehandelt, sondern um eine politische Provokation aus Berlin im Schatten der November-Jahrestage. Eine Geschäftsfrau in der Innenstadt, deren Schaufenster von Vermummten zertrümmert worden ist, sagte: "Das sind nicht besoffene Krawallmacher gewesen, sondern nüchterne Seilschaften!"

Ein Bewohner der Ortschaft Delitzsch bei Leipzig, wo ebenfalls Fensterscheiben eingeschlagen worden sind, meinte: "Bei einem Fußballspiel in Leipzig schlagen Fans in Delitzsch keine Scheiben ein." Polizeisprecher Heimann sagte am Sonntag, die Polizei habe bis jetzt keine Information über die möglichen Hintergründe. Die Staatsanwaltschaft ermittelt weiter. Auftritte von sogenannten "Fans" hat es seit der Öffnung der Grenzen auch in Leipzig schon öfters gegeben. Deshalb war die Polizei auch für das Spiel des FC Sachsen gegen den FC Berlin am Samstagnachmittag vorbereitet, wenn auch vielleicht nicht mit der Routine ihrer westlichen Kollegen. So wurden die Gruppen der ankommenden Zuschauer zwar vom Hauptbahnhof aus unter Aufsicht zum Stadion dirigiert, doch dort sind die beiden Lager derart eng beieinander plaziert worden, daß es auch im Stadion zu Krawallen kam und das Spiel erst mit fast einer halben Stunde Verspätung angepfiffen werden konnte.

Während dieses kleinen Dramas drinnen aber entwickelte sich das eigentliche Ereignis draußen vor dem Stadion. Offensichtlich zur Überraschung von Bahnpolizei und Schutzpolizei war neben den "regulären" Rowdy-Zuschauern nämlich noch eine weitere Gruppe aus Berlin angereist. Auch sie wurde am Hauptbahnhof in die S-Bahn zum Stadion dirigiert, und dort hat sie bei der Ankunft sogleich frontal die Polizeipatrouille angegriffen. Dabei haben die Vermummten nach Berichten der Polizei mit Eisenstangen geschlagen, Steine geworfen und Autos in Brand gesetzt. Die Polizei gibt an, in einem Augenblick dieser Konfrontation seien ihre Einsatzkräfte außerhalb des Stadions plötzlich von Angreifern regelrecht eingekesselt worden, und Polizisten hätten geschossen. Dabei ist einer der Getroffenen aus Malchow bei Berlin getötet worden, zwei andere haben einen  Bauch- und einen Lungenschuß. 80 der Angreifer sind festgenommen worden und werden verhört.

Von diesen Zusammenstößen beim Stadion am Stadtrand sind die Gewalttäter dann durch die Innenstadt zurückmarschiert und haben vor allem in der Gegend um die Nikolaikirche Schaufenster eingeworfen und Angst und Schrecken verbreitet. Eine Kauffrau erzählt: "Als ich die kommen sah, haben wir das Licht im Laden ausgemacht und zu beten angefangen." Da es zur Zeit in Leipzig zu wenige Polizisten gibt und auch nicht genug Glaser bereitstehen, haben Leipziger Geschäftsleute zum Teil über Nacht Wache gehalten in ihren aufgebrochenen Läden. Passanten sagten am Abend, die Polizei hätte "viel härter durchgreifen müssen". Die Kolonne der Schläger und Schreier ist dann so unvermutet davongereist wie sie angekommen war. Die Polizei hat noch nicht einmal Aufschlüsse darüber, ob sie mit der Bahn nach Berlin zurückgefahren sind oder mit Autos. Sicher ist man nur, daß diese Unruhestifter Berliner gewesen sind, nicht Leipziger, und zwar mit einer Kerntruppe in Stärke von 250 Leuten.

Wie die Wahl des Zeitpunkts scheint auch die Wahl dieser Gegend in der Stadt darauf zu deuten, daß mit der Gewaltinszenierung ein besonders empfindlicher Nerv getroffen werden soll: die Nikolaikirche und später ihre Umgegend war in den letzten Honecker-Jahren der Versammlungsort der Gemeinschaften des "Friedensgebetes" gewesen; unmittelbar vor dem Umbruch vor einem Jahr sind von hier aus die Montagsdemonstrationen gestartet. Zur allgemeinen Verunsicherung in Leipzig trägt auch bei, daß wegen der politischen Veränderungen viele Polizisten gekündigt haben und die Schutzpolizei unterbesetzt ist. In Leipzig hat es deshalb in letzter Zeit nicht nur viele Einbrüche bei Sparkassen gegeben, auch die Zahl der kleineren Gewaltkriminalität nimmt zu, vom Handtaschenraub bis zum Überfall im Park. Hier wird Abhilfe vor allem von der neuen sächsischen Regierung erwartet, die in dieser Woche ins Amt treten soll.


Autor nicht bekannt, FAZ, 05.11.1990