Ohnmacht der Polizei / Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Hooligans forderten Todesopfer

Von Bürgerkrieg sprachen diejenigen, die Augenzeugen der Krawalle am Rande des Fußball-Oberliga-Spiels FC Sachsen-FC Berlin am Sonnabend in Leipzig geworden waren. Dabei schien anfangs das Schlimmste überstanden, als die gefürchteten Berliner endlich in ihrem Fan-Block im Georg-Schwarz-Sportpark untergebracht waren. Mit 25 Minuten Verspätung konnte Schiedsrichter Stenzel die Begegnung anpfeifen. Kurz danach aber stürmten Hooligans unter der Flagge des 1. FC Lok Leipzig, die sich schon gegen Mittag auf dem Hauptbahnhof mit den Berlinern geprügelt hatten, eine Traverse, die für den kleinen verbliebenen Rest Gutwilliger auf unseren Oberligaplätzen reserviert war. Das sorgte für Durcheinander. Und ausgerechnet, als die Polizei nun versuchte, im Stadion einige Verschiebungen vorzunehmen, langten auf dem S-Bahnhof Leutzsch weitere 300 bis 500 Berliner an, mit denen offensichtlich niemand mehr gerechnet hatte.

Auf Bitten des Veranstalters versuchte nun die Schupo, den jungen Leuten, von denen viele der Skinhead- oder Hooligan-Szene zuzurechnen sind, den Zugang zum Schwarz-Sportpark zu verwehren. Da zur selben Zeit der zweite Teil der radikalen FCB-Anhängerschaft - freiwillig oder gedrängt - das Stadion zur Hintertür wieder verließ, geriet die Polizei gegen 14.45 Uhr Ecke Eschestraße/Ritterschlößchen in einen Kessel. In dieser prekären Lage, in der sogar der Gebrauch von Maschinenpistolen erwogen worden war, kam der Befehl zum Einsatz der Schußwaffe. Das heißt - so Polizeisprecher Peter Heimann - immer Warnschuß. Es kann sein, daß tatsächlich einige Schüsse in die Luft abgegeben wurden, aber leider nicht alle. Das Ergebnis: ein Toter, fünf Schwer- und sechs Leichtverletzte. Es ist nicht auszuschließen, daß der getötete 18jährige Dachdecker Mike Polley aus Malchow bei Berlin, der zuletzt beim Versandhaus Quelle angestellt war, eher zufällig erschossen wurde.

Allerdings gehörte er zu einer Clique, die regelmäßig bei den FCB-Spielen ihr Unwesen trieb und auch im Hohenschönhauser Neubaugebiet nicht unbekannt war. Außer Lebensgefahr sind die Schwerverletzten, die Schüsse in den Bauch, Lunge, Hoden und Gesicht sowie einen Oberschenkeldurchschuß erlitten. Nach den Schüssen ging jedenfalls der "Krieg" erst einmal richtig los. Außer einem Leichtverletzten in den eigenen Reihen registrierte die Polizei einen verbrannten Mannschafts- und einen Funkstreifenwagen, ein demoliertes ziviles Polizeifahrzeug sowie 15 beschädigte Pkw Unbeteiligter. Schließlich tobte die Randale in der Innenstadt, wo 31 Geschäfte und Einrichtungen zerstört, die Auslagen der Schaufenster - darunter beim Konsument-Kaufhaus und beim Sporthaus am Brühl - geplündert wurden. Bis auf einen der achtzig festgenommenen Fans sind inzwischen alle wieder auf freiem Fuß. Bei näherer Betrachtung offenbart sich die Ohnmacht der Polizei, mit der sie am Sonnabend der Meute gegenüberstand.

Von den acht ursprünglich angeforderten Zügen konnten ganze drei - exakt aber nur 219 Polizisten - mobilisiert werden. Die Ursachen dafür liegen auf der Hand: In den zurückliegenden Wochen haben im früheren Bezirk Leipzig sage und schreibe 1.600 Angehörige der ehemaligen VP freiwillig oder gezwungenermaßen den Dienst quittiert. Die Mehrzahl der Wehrpflichtigen der Ex-Bereitschaftspolizei, die in der Vergangenheit für solche Aufgaben herangezogen wurde, war am 1. November ins Zivilleben entlassen worden. Auf den Rest konnte deswegen nicht zurückgegriffen werden, weil die Bundesgesetze es ausschließen, Wehrpflichtige für polizeiliche Handlungen einzusetzen. Mit Blick auf das deutsch-deutsche Fußballfest am 21. November in Leipzig macht es einen Gruseln, von Einsatzleiter Oberrat Karl-Heinz Krompholz hören zu müssen, daß die Polizei in derartigen Situationen nicht mehr für die Sicherheit garantieren könne. Leipzigs Stadtverordnete seien "von der zu erwartenden Katastrophe unterrichtet" gewesen.


Volker Kluge, Junge Welt, 05.11.1990