Gewinde in den Wendehälsen

Dynamo Ost-Berlin, der Lieblingsverein des früheren Stasi-Chefs Erich Mielke, sucht verzweifelt Anschluß an die neue Zeit.
Das Trainingsquartier des Berliner Fußballclubs Dynamo (BFC) erreicht die DDR-Wende erst mit erheblicher Verspätung. Auf dem Flur der Vereinsbaracke an der Ho-Tschi-Minh-Straße pinnen, unter dem Applaus der Umstehenden, zwei Männer eine leicht vergilbte Karteikarte an das Schwarze Brett, gleich neben den Trainingsplan der Fußballer. Jürgen, den die verschmutzten Stiefel eindeutig als Gartengehilfen ausweisen, gibt die Erläuterungen: Das Papier "bleibt jetzt hängen, damit unsere Jungs sehen, wie sie künftig trainieren müssen". Unter Punkt 2 der "Übungen für den Außenstürmer-Jüngling" heißt es etwa: "Überlisten der Verteidiger unter Anwendung des Garrincha-Tricks". Die Finte des legendären brasilianischen Rechtsaußen - mit einem Fuß über den Ball steigen, um ihn dann mit dem anderen am Gegner vorbeizuspielen - kannte in der Blütezeit des DDR-Fußballs jeder Kicker.

Das Rezept für den Aufbruch in die neue Zeit stammt aus dem Jahr 1972. Der Volksauftrag "zurück zu mehr Individualität" ist für Dynamo Berlin nicht leicht zu erfüllen. Das Trainingszentrum, wo über lange Jahre hinter verschlossenen Türen im Auftrag von Staatssicherheit und Volkspolizei streng nach der Parteidoktrin Sportler zu "Kämpfern für den Frieden" und gleichzeitig zu Olympiasiegern getrimmt wurden, galt als Symbol für den Erfolg sozialistischer Planung. Doch jetzt sieht die Bevölkerung in den Staatsathleten nur noch Privilegierte, die sich Gehalt, Prämien und Auto mit ein paar Trainingseinheiten pro Tag allzu leicht verdienten. "Überall richtigen Haß" hat etwa BFC-Trainer Helmut Jäschke ausgemacht. Als seine Fußballer zum letzten Hinrundenspiel in Aue im Erzgebirge antreten mußten, wurden sie mit Schneebällen beworfen, von den Rängen höhnte es ununterbrochen: "Stasi in die Produktion."

Der Markenname Dynamo ist gründlich unten durch: In den DDR-Medien hat der Vorsitzende Herbert Krafft zwischen den Zeilen sogar schon "die Aufforderung nach der Auflösung aller Dynamo-Klubs" entdeckt. Hilflos stehen die Sportfunktionäre der neuen Situation gegenüber. Früher knüppelte die Stasi renitenten Fans die Kritik aus, die Sportjournalisten waren gleichgeschaltet, das Denken besorgten im hierarchisch durchorganisierten Sportbetrieb der DDR einige wenige. Krafft, der vom Fußball so gut wie gar nichts versteht, empfahl sich für sein Funktionärsamt als Leiter einer militärischen Einheit der Volkspolizei. Die Führungsstrukturen des DDR-Sports hatten sich, anders als in der Politik, bis zuletzt nicht verändert. Das Kleinbeamtentum in den Funktionärsstuben gab sich lediglich erfolgreich gewendet. Doch in der vergangenen Woche begann die Erneuerung auch hier - wie in der Politik ganz oben. Das Präsidium des Deutschen Turn- und Sportbundes, so etwas wie das Zentralkomitee aller Athleten, mußte zurücktreten.

Und eilig schloß Dynamo seinen Vorsitzenden, den früheren Stasi-Chef Erich Mielke, aus dem Verein aus. Auch Herbert Krafft ist von der dunklen Ahnung erfüllt, den neuen Zeiten nicht gewachsen zu sein. Er fühlt sich zerrissen zwischen der Angst um seinen Job einerseits und den neuerdings erwarteten Manager-Fähigkeiten, die etwa eine Vermarktung des Dynamo-Sports im kapitalistischen Westen verlangen. Als im Radio über die Warnung des Schriftstellers Stefan Heym vor einem Ausverkauf der DDR berichtet wird, bricht es aus Krafft heraus. Wo, fragt er in die Runde, sei denn "die Intelligenz in all den Jahren gewesen?" Da hätten doch alle "genau wie wir" geschwiegen. Aber jetzt marschierten die Intellektuellen vorneweg, "bloß weil sie rhetorisch mehr draufhaben". Für Krafft sind das "Wendehälse, die schon ein Gewinde haben". Oft schiebt er die Feststellung ein, daß "ja nicht alles schlecht war, was wir gemacht haben", schämen müsse man sich "für nichts".

Als das DDR-Fernsehen durchsetzt, im bisher hermetisch abgeriegelten Dynamo-Trainingslager Uckley bei Berlin filmen zu dürfen, fordert Krafft den TV-Reporter sarkastisch auf: "Sieh zu, daß dein Kameramann auch ja den Stacheldraht draufkriegt." Die Fernsehmenschen, sagt Cheftrainer Jürgen Bogs, hätten wohl gedacht, "bei Dynamo sieht's wie in Wandlitz aus". Jedenfalls seien sie "ganz schön enttäuscht" gewesen, daß im Camp "pro Etage nur zwei Klos waren". Luxuriös ist aber die personelle Ausstattung des BFC, in dem insgesamt nur 170 Fußballer spielen: 14 Trainer und 30 hauptamtliche Funktionäre stehen ebenso wie die 23 berligakicker auf der Gehaltsliste der Volkspolizei. Die Fußballer kassieren etwa 1.500 Mark im Monat, einziges Kriterium für das Grundgehalt ist der Dienstgrad. Hinzu kommen noch Siegprämien, 750 Mark für einen Auswärts-, 500 Mark für den Heimsieg. Der bürokratische Wasserkopf ist künftig nicht mehr zu finanzieren. Frank Fleischer, 43, ist seit 23 Jahren beim Klub, bis 1976 als Spieler, dann ist er "in den Funktionärsbereich aufgerückt".

Der Hauptmann der Nationalen Volkspolizei hat nie bei der Vopo gearbeitet, war beim BFC für Organisation und ideologische Schulung zuständig. Den schwarzen Aktenordner mit der Aufschrift "Argumente" hat er erst einmal in den Schrank geschlossen, gleich neben die beiden kleinen blauen Kästchen, in denen laut Etikett der "Anteil des BFC Dynamo am Wachsen und Werden der Republik" aufbewahrt wird. Statt dessen diskutiert Fleischer oft mit Kollegen über die Sicherheit der Arbeitsplätze, mit immer gleichem Ergebnis: "So kann es nicht weitergehen." Das Geld für die Weiterbeschäftigung der werktätigen SED-Mitglieder, von denen, so Fleischer, "keiner für Reformen auf die Straße gegangen ist, weil wir eine sehr gute ideologische Arbeit betrieben haben", soll tunlichst aus dem Westen kommen. Krafft und Bogs fuhren nach Bremen, um bei Werder-Manager Willi Lemke einen Crash-Kurs in freier Marktwirtschaft zu belegen. Drei Stunden tagten die Herren am Kamin im Bremer Park Hotel.

Der quicke Lemke, der am liebsten alle DDR-Klubs gleichzeitig "von null auf 180" bringen möchte, verriet nur kleine Geschäftsgeheimnisse - etwa die Höhe seiner Provision bei der Vermittlung von Bandenwerbung. Staunend beobachteten die Dynamo-Leute, denen bisher ein eigenes Klubkonto fremd war, wie Kapitalismus funktioniert: Am Nebentisch wurde eine Luxuslimousine verschachert; die Käufer zählten dem Verkäufer die Tausender lässig in den Aktenkoffer. Kaum wieder in Berlin, saßen bereits die ersten westlichen Manager im Dynamo-Büro. Die beiden Herren von der "Unternehmensberatung H. P. Reinberger" wollten den künftigen DDR-Profis "in der moralischen Ausübung ihres Berufes" beistehen und dafür 15 Prozent des Grundgehalts und der Prämien sowie 30 Prozent aller Werbeeinnahmen einstreichen. Und auch das Vermarktungskonzept für den Klub hatten sie gleich mitgebracht. Der Entwurf für den Brief an Sponsoren entsprach ganz dem Trend nach eiligen Geschäften. "Zeit ist kostbar", hieß es da, und: "Für das Studium dieses Angebotes brauchen Sie sieben Minuten und zwölf Sekunden."

Die tatsächlichen Deals laufen an den Dynamo-Funktionären offenbar vorbei. So mußten sie in einem Bild-Interview lesen, daß ihr Stürmer Reiner Ernst seinen Marktwert locker selbst auf 400.000 Mark (West) taxiert. Und als vor dem Spiel in Aue bekannt wurde, daß Dynamo-Star Andreas Thom am nächsten Morgen zusammen mit Kapitän Frank Rohde in die RTL-plus-Sendung "Anpfiff" fliegen wolle, reagierten sie fassungslos. Die Spieler, besorgt, den richtigen Zeitpunkt für den Absprung womöglich zu verpassen, hatten längst die Initiative übernommen. Auch wenn für ihn ein Wechsel kaum noch in Frage komme, grinste Rohde, wolle er "die Szene da drüben doch mal genau unter die Lupe nehmen". Denn mit Thom ist er sich einig, "daß die hier das sowieso nicht schaffen". Thom verhandelte an Krafft vorbei, einigte sich mit Leverkusens Manager Reiner Calmund; Ernst stellte sich in Dortmund zum Probetraining ein. Soviel Eigenständigkeit konterte Krafft mit neuer Obrigkeitshörigkeit. Er werde erst handeln, erklärte er, wenn der Verband alle Transfer-Details festgelegt habe.

Als das soweit war, durfte er letzte Woche nur noch mit dem Kopf nicken. So etwas ist ganz nach dem Geschmack des Generalsekretärs des Deutschen Fußball-Verbandes der DDR, Wolfgang Spitzner. Der hat nach einem Besuch bei den westlichen Verbandsbrüdern schnell das "Geheimnis des Managements" ausgemacht. Es liege, erklärt Spitzner stolz, keineswegs "in der Differenzierung, sondern in der Rechtebündelung". Bloß, wie das alles umsetzen? Als Spitzner bei einem Statement für das DDR-Fernsehen elegant eine Schachtel HB-Zigaretten auf den Tisch stellt, stoppt der Kameramann die PR-Aktion: "Nu, so geht das nicht." Angesichts der unsicheren Verhältnisse haben die Dynamo-Verantwortlichen jetzt Public Relations in eigener Sache angesetzt. Am Tag des Spiels in Aue war offiziell bestätigt worden, daß Mielke sogar die Schiedsrichter veranlaßt hatte, dem BFC zu Siegen zu verhelfen. Auf der Tribüne des Wismut-Stadions protestierte Präsident Krafft dann leidenschaftlich bei fast jedem Freistoß - den sein Team zugesprochen bekam.


Autor nicht bekannt, DER SPIEGEL, 18.12.1989