Häme im Rucksack

Werder Bremens erster Europacup-Gegner ist ein beispielloser Verein: Der Ost-Berliner Klub Dynamo ist ebenso erfolgreich wie unbeliebt.
Im Eröffnungsspiel der DDR-Fußballsaison rollte der Ball kaum zehn Minuten, da skandierten die Zuschauer im Ost-Berliner Jahn-Sportpark schon hämisch gegen ihre Mannschaft, den DDR-Meister BFC Dynamo: "Schiebermeister BFC, Schiebermeister BFC." Die unfreundlichen Verdächtigungen erläuterte auf der Tribüne ein Berliner Fußballfan: "Det weeß doch hier jeder, det Dynamo vom Schiri Hilfe kricht, eh' wat schiefjeht." Das Mißtrauen verdankt der BFC Dynamo aus Ost-Berlin einem unsichtbaren ideologischen Rucksack, den er überallhin mitschleppen muß: Die DDR-Staatsmacht hat sich den Klub als Fußball-Repräsentanten des Landes ausgeguckt. Dynamo Berlin ist der Fußballklub der Volkspolizei und der Stasi. Der Präsident heißt Erich Mielke und ist Minister für Staatssicherheit. Unter der zwangsweisen Fürsorge der Staatsgewalt entwickelten sich die Ost-Berliner zu einem im Westen undenkbaren Verein: Dynamo ist außerordentlich erfolgreich und zugleich bei den Fans höchst unbeliebt.

Zehnmal in Folge fiel Dynamo der DDR-Titel zu, zweimal dazu der Pokal, auch 1988. Elf Nationalspieler gehören zur Mannschaft, darunter Andreas Thom, ein Stürmer der Sonderklasse und Spieler des Jahres in der DDR. Sogar Werder-Trainer Otto Rehhagel wünschte sich Thom in sein Aufgebot. Am Dienstag dieser Woche bekommt es der bundesdeutsche Meister Werder Bremen in der ersten Europacup-Runde mit dem DDR-Meister zu tun. Dynamo wird gerühmt für seinen attraktiven Angriffs-Fußball und seine drei durchschlagkräftigen Stürmer Thom, Rainer Ernst und Thomas Doll, die von den 59 Treffern der vergangenen Saison allein 43 erzielten. Doch alle Angriffslust kann die Zuschauer nicht besänftigen: Als "Bullen-Elf" begrüßt das Publikum regelmäßig das Kollektiv. Besondere Verbitterung löst bei den DDR-Fans die Zuwendung der Schiedsrichter aus, die in offenbar vorauseilendem Gehorsam dem Stasi-Klub öfter mal etwas Gutes tun. "Wir grüßen den DDR-Meister und seine Schiedsrichter", heißen etwa Transparente die Berliner in Leipzig willkommen.

Tatsächlich passieren zuweilen rätselhafte Dinge, die dem BFC Dynamo zum Vorteil gereichen. Achtmal in einer Spielzeit hatte es sich gefügt, daß Dynamo-Gegnern ein wichtiger Spieler im Spiel gegen den Meister fehlte. Jeweils am Spieltag zuvor hatten Schiedsrichter ihnen eine gelbe Karte gezeigt, die wegen voraufgegangener Verwarnungen einen Spieltag Sperre nach sich zog. Nationalspieler Frank Baum, den Abwehrrecken des ärgsten Dynamo-Rivalen Lok Leipzig, traf es einmal sogar in der 90. Minute: Angeblich hatte er einen Abstoß verzögert. Gegen Dynamo eine Woche darauf mußte er zusehen. Bei jedem Elfmeter zugunsten des BFC argwöhnen Fans vorsorglich "Schiebung". Die neue Saison begann mit einem - allerdings berechtigten - Strafstoß für Dynamo. Als die Anhänger der Gästemannschaft von Chemie Halle dagegen angrölten und randalierten, schritt die Staatsmacht ein: Vopos griffen einen Hallenser aus der Menge und führten ihn blitzschnell ab.

Schiedsrichter Bernd Stumpf aus Jena, immerhin vom Weltverband Fifa international eingesetzt, übertrieb die Fürsorge an einem Märztag 1986 zu offensichtlich: Lok Leipzig führte gegen die Berliner Dynamos 1:0. Zuerst stellte der Genosse in Schwarz den Leipziger Nationalspieler Matthias Liebers vom Platz. Sein Vergehen: Er war bei einem Freistoß zu früh aus der Abwehrmauer herausgelaufen. Als die dezimierten Leipziger weiterhin standhielten, verhängte der Schiedsrichter in der 93. Minute einen Elfmeter - 1:1. Bei internationalen Wettbewerben, wo die schiedsrichterliche Zuwendung fehlt, brachte Dynamo wenig zustande. In bislang 54 Europacup-Spielen glückten gerade 20 Siege. "International an den Weltstandard anknüpfen" nennt Trainer Jürgen Bogs, 41, stereotyp zum Anpfiff jeder Saison seinen dringlichsten Auftrag. Schließlich war Dynamo ursprünglich entstanden, um den Ruhm der Republik über die Fußballfelder in die Welt hinauszutragen.

Nach dem Kriege hatte der Klub als Sportgemeinschaft Volkspolizei (SGVP) Dresden begonnen. 1954 versetzte die Sportführung ihre Vopo-Kicker unter dem veränderten Namen SC Dynamo nach Berlin. Eine zusammenkommandierte Truppe - auch heute noch bekommt Dynamo fertige Spieler und Talente wie etwa Thom bevorzugt zugeteilt - sollte den prestigeträchtigen Meistertitel in der beliebtesten Sportart möglichst regelmäßig in die Hauptstadt der Republik holen. Erst Ende 1965 zog die DDR-Sportführung Konsequenzen aus dem sterilen, fanfeindlichen Fußballbetrieb, in dem neben unattraktiven Betriebssportgemeinschaften nur einige Leistungsklubs spielten. In der DDR entstanden mit FC Carl Zeiss Jena, FC Hansa Rostock, dem 1. FC Magdeburg oder in Berlin dem 1. FC Union wieder Vereine, mit denen sich die Fans identifizieren konnten. Der SC verwandelte sich in den Berliner Fußballklub (BFC) Dynamo - doch die Fans reden weiter von der "Stasi-Truppe", wenn sie überhaupt erscheinen.

Der Kleinstadtklub Stahl Brandenburg zog im letzten Spieljahr durchschnittlich 9.600 Zuschauer an, der Berliner Dynamo nur 8.800. Den einzig vollbesetzten Block im Dynamo-Stadion bilden stets die Anhänger des Gastes. Als Chemie Halle in Berlin zum Saison-Auftakt das überraschende 2:2 gelang, forderte das Publikum einhellig: "Zugabe, Zugabe." Die Sympathien der Berliner Fußballanhänger lassen sich zweimal im Jahr besonders augenfällig feststellen: Wenn BFC Dynamo gegen FC Union, den Nachfolger des Traditionsvereins Union Oberschöneweide, antritt, findet mehr als ein Fußballspiel statt. Ähnlich wie beim schottischen Duell zwischen Celtic Glasgow und den Glasgow Rangers, wo der Kirchenkampf zwischen Katholiken und Protestanten stets aufs neue ausgefochten wird, treffen auch in Berlin die gegenwärtig gängigen Systeme aufeinander. Das Vopo-Aufgebot in der Innenstadt - vergleichbar mit dem Militäraufwand in Moskau während der Olympischen Spiele 1980 - verdeutlicht die Brisanz des Spieles in den Augen der Staatsmacht.

Sogar die Würstchenbude im Stadion der Weltjugend bewachten am vorletzten Mittwoch zwei Vopos. "Eisernjon, Eisernjon" rufen prall gefüllte Blocks der Union-Anhänger, weil sich "Eisern Union", ein Schlachtruf seit 80 Jahren, nicht deutlicher skandieren läßt. "Halleluja FCU", brüllen sie und "Nieder mit dem BFC". Kein DDR-Verein kann auf treuere Fans bauen als Union. Gruppenweise rücken sie an, großenteils in Jeans und um den Hals rotweiße, bis auf den Boden reichende Schals, dazu rotweiße Kappen. Nach dem Abpfiff mündet der Abmarsch in eine Demonstration. Sobald die vielen tausend Union-Fans auf der Chausseestraße an die Ecke Hannoversche Straße gelangen, wo die Ständige Vertretung der Bundesrepublik ansässig ist, intonieren sie Sprechchöre: "Deutschland, Deutschland". Vopos und Stasi-Leute an den Straßenseiten bilden enge Ketten und blicken verbiestert, greifen aber nicht ein. Allerdings darf das Fernsehen das alljährlich wiederkehrende Ritual nicht dokumentieren. Von Dynamo-Anhängern ist nichts zu sehen. Im Jahn-Sportpark ist jener Zuschauer-Block, der den BFC-Fans vorbehalten ist, nur äußerst licht gefüllt. "Weeste", erklärt Sportfreund Jürgen dem Wessi geduldig, "det is det eenzije Kollektiv ohne richtije Fans - weil sich mit den' keena identifisiert."


Autor nicht bekannt, DER SPIEGEL, 05.09.1988