Mit voller Kraft starten

Erhöhte Erwartungen - gewachsene Ansprüche, mit diesem Leitsatz geht der Berliner FC Dynamo in die neue Saison. Er verbesserte sich in den Schlußabrechnungen der zurückliegenden drei Jahre vom 5. Rang über den 4. auf den 2. Und die gestiegene Attraktivität seines Angriffsspiels widerspiegelte sich nicht zuletzt im Zuschauerzuspruch in den Heimpartien von 7.200 auf über 16.500 im Schnitt! Nach der Vizemeisterschaft 1971/72 erspielte sich der BFC in der Saison 1975/76 wieder die Silbermedaille. Doch das bedeutet nicht schlechthin eine Fortsetzung. Dazwischen lag ein Prozeß des Verjüngens und Neuformierens.

Man vergegenwärtige sich nur, daß aus der BFC-Elf, die im Erfolgsjahr 1971/72 das letzte Europacup-Halbfinaltreffen gegen Dynamo Moskau bestritt, nur Schütze, Schulenberg, Terletzki, Netz und P. Rohde übrigblieben. Die vergangenen drei Jahre verliefen nicht ohne Probleme, auch wenn die Bilanzen am Ende jeweils stimmten. Doch Trainer Harry Nippert bewies Konsequenz im Handeln. Immerhin mußte ein solch profilierter Abwehrblock Lihsa-Carow-Stumpf, Trümpler, Hübner durch einen jüngeren völlig neu ersetzt, das Mittelfeld umgekrempelt werden, und im Angriff steht jetzt mit Netz noch einer vom Vizemeister-Jahrgang 1971/72.

So werden einige Erscheinungen der Vergangenheit verständlich: Die Berliner hatten in den Jahren der "Bestandsaufnahme" (1973/74), "Profilierung" (1974/75) und "Stabilisierung" (1975/76), als die sie Nippert titulierte, jeweils in den ersten Halbserien Anlaufschwierigkeiten mit erheblichen Punkteinbußen. Im Spieljahr 1974/75 gelang in den ersten acht Begegnungen nicht ein Sieg (6:14 Tore), pendelte man zwischen dem 12. und 13. Tabellenrang. Im Vorjahr verlief der Start zwar überzeugender, aber in den vier Auswärtspartien gegen Dynamo Dresden, den 1. FC Magdeburg, den FC Carl Zeiss Jena und 1. FC Lok gab es nur Niederlagen.

"Ein Start mit voller Kraft und Konzentration", wie es Trainer Martin Skaba formulierte, ist deshalb die Devise, um nicht wieder verlorenen Boden gutmachen zu müssen. Das Fazit 1975/76 war rundherum erfreulich, so daß Nippert auf einer festen Plattform sein "Fünf-Jahr-Programm der Reife" fortführen kann. Die vier Senioren über 26 - Lauck, Schütze, Schulenberg, Terletzki - bewiesen alle ausgeprägte gestalterische Fähigkeiten und Beständigkeit; ein Umstand, der von den Trainern nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

Den vier Verteidigern Noack, Wroblewski, Eigendorf und Jonelat (jüngster Abwehrblock der Oberliga mit 21,7 als Durchschnittsalter) bescheinigt Nippert, "sie seien (wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten) auf dem besten Wege, die torgefährlichen Aktionen erfolgreicher abzuschließen". Ihre Gesamtbeute von fünf Meisterschaftstoren befriedigte 1975/76 noch nicht! Zwischen Riediger und Netz stürmt weiterhin Schütze als Bindeglied zur Mittelfeldreihe. Eine geglückte Lösung, wenngleich die Suche nach einem dritten Stoßstürmer aktuell bleibt. Vielleicht ist der 18jährige Sträßer in der Perspektive eine Lösung, wenn er Beständigkeit nachweist.

Das Ringen um den Titel bzw. den FDGB-Pokal sowie ein weites Vordringen im UEFA-Pokal, in dem man mit neuer Elf an das EC-Jahr 1971/72 anknüpfen möchte, verlangen zur Durchsetzung eines fitneßbetonten, stilvollen Angriffsfußballs auf Dauer ein größeres Spielerreservoir. Mit Trieloff (Ausputzer und Mittelfeldspieler), Jüngling (in Mittelfeld und Sturm) sowie Jahn bieten sich universell einsetzbare Akteure an. P. Rohde empfiehlt sich nach längerer Verletzungspause künftig als Vorstopper, und mit Labes wartet ein sehr erfahrener Mann im Angriff auf den Einsatz. Sie alle erhielten in den Vorbereitungsspielen ausreichende Gelegenheiten zur Bewährung.

Unsere Konzeption beruht darauf, den Kontrahenten unser Spiel aufzuzwingen", erläutert Harry Nippert. "Das ist uns in der Frühjahrsrunde schon sehr nachdrücklich gelungen." Er vertraut zu Recht auf die Steigerungsfähigkeit seines jungen, stabilen Kollektivs, mit dem er - frei von akuten Besetzungsproblemen - eine höhere Qualität und höhere Ziele anvisiert.
• Zugänge: Keine.
• 7 Abgänge: Klimpel (Dynamo Dresden), Johannsen (leistungssportliche Laufbahn beendet).
• Voraussichtliche Besetzung: Schwerdtner - Jonelat - Noack, Eigendorf (Rohde), Wroblewski - Terletzki, Lauck, Schulenberg - Riediger, Schütze, Netz.

Wolf Hempel, Neue Fußballwoche, Juni oder Juli 1976