Reserven zur Weiterentwicklung sind immer noch vorhanden / Erwartete Position in der Spitzengruppe erreicht / Im Titelkampf aber kaum noch eine Chance / Durchschlagskraft muß wieder erhöht werden

Ob der BFC Dynamo Titelambitionen hege, wurde BFC-Cheftrainer Hans Geitel, der nach seiner Krankheit derzeit zur Kur weilt (weiterhin recht gute Genesung!), vor Saisonbeginn gefragt. Die diplomatische Antwort: "Wir streben einen Medaillenplatz an!" Dieses Ziel ist für die Berliner dann auch nach wie vor real, aber mehr als Bronze dürfte für sie kaum herausspringen. Gerade in der letzten Phase der ersten Halbserie büßten sie viel Boden gegenüber der beständig bleibenden Konkurrenz aus Dresden und Jena ein. Das 1:1 auf eigenem Boden gegen Zwickau und ein 0:1 in Aue kosteten sogar den dritten Tabellenplatz, den Titelverteidiger Magdeburg dank des besseren Torkontos übernahm. Größter Mangel im BFC-Spiel war in jüngster Vergangenheit die fehlende Torgefährlichkeit. Dynamos Angriffsspitzen stachen kaum noch in gewohntem Maße, wirkten stumpf, wenn es die Elf auch verstand, manche Schwächen, wie beim 2:1 gegen den FCV, beim 2:0 gegen Chemie Leipzig oder beim 2:1 im Pokal gegen den FC Hansa Rostock II, zu überdecken.

Hier kam dann doch zum Ausdruck, daß die Erfolge des Vorjahres — Vizemeister und Einzug in das Halbfinale des Cups der Pokalsieger — zur Selbstsicherheit beigetragen haben. Lief spielerisch dieses und jenes daneben, wurde der BFC zumindest nicht nervös, wirkte routinierter und abgeklärter als in früheren Jahren. Zweifellos keine unwichtige Erkenntnis, wenn es um die Beurteilung eines entwicklungsfähigen, mitten im Reifeprozeß stehenden Kollektivs geht. Auch das muß bei einer Zwischenbilanz registriert werden: Dynamo hat diesmal gegenüber 1971/72 sogar einen Pluspunkt mehr herausgeholt (Tore damals 18:12, jetzt 23:16), verfügt auswärts (5:7 Pkt.) über den viertbesten Stand, liegt in der Heimtabelle aber nur an fünfter Stelle (10:4), weil ausgerechnet der Lokalrivale Union als einzige Gastelf im Sportforum gewann, nachdem dort vorher der FCK mit 2:5 und danach der FC Hansa mit 0:4 unter die Räder kamen.

Günter Schröter, der Hans Geitel vertritt, weist im nebenstehenden Gespräch darauf hin, daß der BFC von Verletzungssorgen geplagt war. Mit Carow, R. Rohde und Labes fielen drei Stammspieler langfristig aus. So konnte auch die Konzeption nur für kurze Zeit verwirklicht werden, Rainer Rohde ins Mittelfeld zu stellen, um hier nach der Zurücknahme von Kapitän Peter Rohde als Vorstopper neue Impulse zu erhalten. Ob das allerdings sofort spürbar wird, muß die Zukunft zeigen, denn sowohl R. Rohde als auch Labes dürften bei der Fortsetzung der Meisterschaft wieder zur Verfügung stehen. Gerade Labes sollte alles daransetzen, zur alten Form zurückzufinden, denn an durchschlagskräftigen Stoßstürmern hat der BFC keinen Überfluß. Interessant übrigens in diesem Zusammenhang, daß Schulenberg mit seiner unorthodoxen Spielweise zwar für jeden Widersacher ein höchst unbequemer Partner war, aber lediglich ein Tor schoß.

Um noch einmal auf das Mittelfeldspiel der Berliner zurückzukommen: Akteure wie Schütze — er wäre bei größerer Beständigkeit in erster Linie dazu in der Lage —, Terletzki, Becker, Schwierske oder nun R. Rohde müssen wieder mehr in Erscheinung treten. Auf diesen Positionen liegt wohl vor allem im Augenblick das Problem bei Dynamo, um eine Stabilität zu erreichen, die hoffen läßt, daß die Elf eines Tages auch in den unmittelbaren Kampf um den Titelgewinn eingreift. Cheftrainer Hans Geitel formulierte es unlängst so: "Es werden heute nicht mehr so deutliche Grenzen zwischen Abwehr und Angriff gezogen. Von den Spielern wird die Erfüllung beider Aufgaben verlangt. Gerade im Mittelfeld ist der All-round-Könner gefragt. Dort darf es keinen einseitigen Typ mehr geben."

Kein Zweifel: Die Angriffsflitzer des BFC, Johannsen (1,73 m), Netz (1,70), Schulenberg (1,71) und Labes (1,70) schöpfen erst ihre Fähigkeiten wirklich aus, wenn sie entsprechend in Szene gesetzt werden. Das gehört ganz besonders zur Spielweise der Berliner, spricht man vom "arteigenen BFC-Stil". Dynamo überraschte in der Saison 1971/72 mit einer plötzlichen Leistungssteigerung. Die Mannschaft liegt auch nun wieder aussichtsreich im Rennen, sich auf internationaler Ebene für den UEFA-Pokal oder für den Cup der Pokalsieger zu qualifizieren. Daß noch beträchtliche Reserven vorhanden sind, die es mit bekannter "Dynamo-Energie" auszuschöpfen gilt, ist ebenso unbestreitbar. Der BFC kann das zunächst im Halbfinale des FDGB-Pokals und dann im weiteren Punktspielverlauf (Dynamo Dresden und der FC Carl Zeiss Jena kommen in der zweiten Halbserie zum BFC) beweisen!

Hans-Günter Burghause, Neue Fußballwoche, 16.01.1973