Weil ich der Kleinste war - Teil 7 (Schluß)

Große Aufgaben warten

Nach den ersten Spielen waren die Kritiker selbst bei Niederlagen wohlmeinend aufmunternd, dafür bei Erfolgen überschwenglich. Dann wurden sie strenger und nüchtern einschätzend, und jetzt sind sie auch bei Siegen hart und fordernd. Das ist erstens gut und zeigt zweitens die Entwicklung der Auswahl und das Vertrauen in die gewachsene Stärke. Eigentlich kam ich immer einigermaßen gut weg dabei. Es gab einige gute Kritiken, manche schlechte und manchmal gar keine. Das waren die schlimmsten. Die schönste Kritik aber war wohl die, daß ich doch immer wieder berufen wurde. Ich habe das nie falsch eingeschätzt, bestimmt aber nicht als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt. Trotzdem habe ich es schmerzlich empfunden, ausgerechnet in diesem Spiel nicht dabeigewesen zu sein, als unsere Elf gegen den Gegner antrat, der unser erster überhaupt war, Polen. Mit einer ärgerlichen Knieverletzung saß ich zu Hause am Lautsprecher, als meine Freunde im Stadion in Chorzow kämpften und 2:0 gewannen.

Ist es schon schwer, nicht mitmachen zu können, nicht einmal dabeizusein, und wäre es nur am Rande, das ist schon kaum auszuhalten. So saß ich zu Hause mit dickem Knie und noch dickerem Kopf und kroch fast in den Apparat, setzte Nerven zu und nahm beinahe soviel ab, als wäre ich dabeigewesen. Meine Freude über diesen Sieg war groß, aber noch größer war meine Freude darüber, daß "mein Ersatzmann" Rainer Baumann aus Leipzig so großartig aufspielte. Ich bin ehrlich, wenn ich sage, ich habe um ihn und seinen Erfolg mehr gebangt als um den möglichen Sieg. Und das nicht, weil ich es ihm nicht zugetraut hätte, sondern, weil ich nur zu gut weiß, was es bedeutet, als Ersatzmann zu beweisen, daß man gar kein Ersatzmann ist. Der Rainer hat das prächtig demonstriert. Das erhöht noch den Wert seiner Leistung. Außerdem gab es in diesem Kampf noch ein Kuriosum. Da er der erste in diesem neuerbauten großen Stadion der Stadt war, sollte der Schütze des ersten Tores einen Erinnerungspokal bekommen.

Aber der wäre mit ihm höchstwahrscheinlich nicht sonderlich glücklich geworden. Das erste Tor schoß nämlich Polens linker Verteidiger Wozniak, nur nicht ins richtige, sondern ins eigene Tor. Ich habe nicht etwa die Absicht, alle Länderspiele besonders aufzuzählen, aber einige verdienen es doch, erwähnt zu werden. Fragt man mich zum Beispiel nach dem Kampf der Nationalelf, dem ich am meisten Bedeutung beimesse, so glaube ich richtig zu antworten, wenn ich den gegen Wales in Leipzig 1957 nenne, nicht nur, weil es der Vorbereitung auf die Weltmeisterschaften in Schweden diente, sondern, weil es uns damals zum ersten Male wirklich gelang, und das noch dazu vor einer großartigen Kulisse, nachzuweisen, daß wir nicht nur zu kämpfen verstanden. Bis dahin hatte man uns nämlich immer noch das zwar ehrenvolle, aber doch einschränkende Prädikat angehängt, eine Mannschaft zu sein, die mit Kampfkraft ihre Spiele aus dem Feuer reißen konnte. Daß wir auch gut in der Lage waren, mitzuspielen, gar nicht einmal schlecht mitzuspielen und den Gegner zu schlagen, das bewiesen wir gegen Wales.

Zum anderen ist es so, daß wir es nicht nur nötig hatten, es den Zuschauern nachzuweisen, wir selbst brauchten ja auch diese Bestätigung. Und insofern hat uns dieser Kampf gegen Wales gegen all die klangvollen Namen eine herrlich stabile Korsettstange eingezogen. Daran änderte auch die Niederlage im Rückspiel nichts. Für mich und für die gesamte Auswahl war der 19. Mai 1957 der Geburtstag eines neuen Bewußtseins, das in die eigene Kraft, die Geburtsstunde eines gesunden Selbstvertrauens. das noch dazu vollauf, berechtigt war. Und tatsächlich folgten diesem Sieg noch ein paar sehr schöne Siege, die auch nicht alle nur sauer erkämpft, sondern recht gut erspielt wurden. Ich zähle das 3:2 gegen Rumänien am 14. September 1957 in Leipzig dazu und den 4:1-Sieg gegen Norwegen zwei Monate später, ebenfalls in der Messestadt. Das war übrigens das Rückspiel gegen die Skandinavier, die wir im August des gleichen Jahres in Oslo nicht schlagen konnten, obwohl wir sage und schreibe fünf Tore geschossen hatten. Aber wir verloren eben 5:6. Bedenkt man es recht, so war das eine taktische Meisterleistung im negativen Sinne.

Das beste Jahr

Unser Abschneiden in den Jahren 1957 und danach hatte außer dem gewachsenen Vertrauen in das eigene Können noch eines zur Folge: Die Gegner wurden stärker, und sie waren außerdem weit davon entfernt, uns leichtzunehmen. So folgte dann eine Reihe sehr schwerer Spiele gegen gut renommierte Mannschaften und - Rückschläge. Unsere Nationalmannschaft brauchte schon einige Zeit, um sich wieder zu fangen. Sie fing sich, als ein neuer Wind in die Elf zog und mit ihm wieder Namen bewährter Spieler, die einige Zeit nicht mehr nominiert worden waren. Manni Kaiser zum Beispiel und, mit Verlaub, ich. Ich meine das Jahr 1961. Wohl brachte es noch nicht wieder die Erfolge. aber sie bahnten sich an. und sie stellten sich ein, weil beharrlich weitergearbeitet wurde. Beweis: die knappe Niederlage 2:3 gegen die Ungarn im Gruppenspiel zur Weltmeisterschaft 1962. So froh wie über diesen Sieg war die ungarische Elf wohl selten, weil er ihr so unendlich schwergefallen war. Ein Jahr später ernteten wir die Früchte der Beharrlichkeit. Gegen die UdSSR in Moskau ein tadelloses Spiel und ein tadelloses Ergebnis: 1:2 gegen die starke Elf der Sowjetunion.

Auch das 1:3 in Jugoslawien zwei Wochen später brachte ausgezeichnete Kritiken. Diese Ergebnisse, oder besser die Art, in der wir sie erzielten, waren beileibe keine Zufälligkeit. Wir bewiesen das mit dem 4:1 gegen Dänemark in Leipzig und mit dem 2:2-Unentschieden gegen Jugoslawien im Herbst 1962 in Leipzig. Dann folgte im Oktober der 3:2-Sieg gegen Rumänien in Dresden, und dann der ganz große Hieb im Europapokal der Ländermannschaften gegen die CSSR in Berlin. Wer hatte das schon erwartet, wer von den Fußballfreunden unserer Republik, und wer in der Welt? Gegen den Vizeweltmeister antreten und 2:1 zu gewinnen. Und das alles, wenn auch zu Hause, im Stile einer Mannschaft, die weder in Sachen Kampfmoral noch in technischen Belangen hinter dieser Weltklassemannschaft zurückblieb. Da fehlte wirklich nur noch die Bestätigung im Rückspiel. Unsere Mannschaft erbrachte sie durch das 1:1, womit sie den Favoriten CSSR aus dem Pokal warf. Der hellhörige Leser wird bemerkt haben, daß ich nicht mehr "wir", sondern "unsere Mannschaft" sagte. Tatsächlich war ich an diesem schönen Erfolg in Prag nicht mehr unmittelbar beteiligt.

Ich zerfetzte meine Nerven in diesem und in den nächsten Spielen auf der Reservebank, weil meine Zeit in der Auswahl gekommen war. Ich bin nicht abgebrüht genug, erklären zu können, es hätte mir gerade in dieser Zeit nicht weh getan. Gerade jetzt, wo die Truppe so gut in Schwung ist, so prächtig spielt, weil sie so prächtig harmonisch abgestimmt ist. Aber gerade deshalb darf nur der Beste spielen, der, der die meisten Garantien für das restlose Gelingen geben kann. Und deshalb, so schwer es fiel, deshalb akzeptierte ich die Überlegung der verantwortlichen Trainer Soos und Studener. Aber auch das soll gesagt sein: Zum ersten Male wurde ein älterer Spieler nicht wie eine alte ausgediente Mähre in den Stall geschickt. Zur ersten Male verzichtete man nicht auf ihn und seine Erfahrungen, und sei es nur, den Jüngeren mit Rat und Tat das Kreuz zu stärken. Mir hat diese Handlung der Trainer nicht weniger gegeben als meine erste Berufung in die Auswahl. Was dann kam, ist bekannt. Ich tat meinen letzten Anstoß im Spiel unserer Nationalmannschaft gegen die englische Elf. Und deshalb bitte ich darum, mir eine Wiederholung zu ersparen, bevor ich wieder weich werde in der Erinnerung daran.

Reise - Reise

Bliebe noch ein Abschnitt, der noch nicht zur Sprache kam: all die wunderschönen Reisen. Wie viele mögen es gewesen sein? Ich würde ihre Zahl noch zusammenbekommen, aber da müßte ich schon eine hübsche Weile überlegen. Der ganze Wohnzimmerschrank ist voll von Andenken und Geschenken. Und selbst die Wände, geschmückt mit allerlei wertvollen und weniger wertvollen, aber trotzdem schönen Souvenirs könnten Auskunft geben über jeden Kilometer Reiseweg und über die fremden Menschen, deren Freundschaft wir empfingen, und die nun in Symbolen im Arsenal eines Fußballers a. D. liegen, um ab und zu hervorgeholt, um in liebevoller Erinnerung betrachtet zu werden. Wovon sollte ich erzählen? Von der Reise mit dem ASK in die Sowjetunion? Von der Fahrt mit dem SC Dynamo um die halbe Welt nach China? Oder von denen mit der Auswahl nach Marokko, nach Skandinavien oder ins heiße Ägypten? Oder von der Reise nach Indonesien?

Ja, die ist mir ganz besonders in Erinnerung geblieben. Selten habe ich so gedampft, ohne mich kaum zu bewegen, wie in diesem Inselland. China war schon heiß gewesen, aber diese Hitze hier war anders. War sie in China trocken und deshalb noch halbwegs zu verkraften, so war sie in Indonesien feucht; so, daß einem das Atmen schwer wurde. Wieviel Kraft kostete es, sich zu akklimatisieren. Während die Fußballer zu Hause mit dem Winter fertig werden mußten, versuchten wir es bei rund 35 Grad im Schatten. Wenn nur immer Schatten dagewesen wäre. Leider fehlte er natürlich während des Spiels. Wir trösteten uns damit, daß uns der Schatten nur wenig genützt und nicht weniger Wasser aus dem Körper getrieben hätte. Vom Lande dort unten im fernen Asien und seinen Leuten ist mir neben der Hitze vor allem die überströmende Herzlichkeit in Erinnerung, die sie uns als Vertreter des demokratischen Deutschlands entgegenbrachten. Wenn man als Fußballer überhaupt verwöhnt werden darf, so taten sie es.

Da kapitulierten selbst unsere Trainer. Sie erlaubten sogar das, was sonst kaum in Frage kommt: stundenlanges Schwimmen. Die freundlichen Gastgeber hatten uns angeraten, Tjibulan zu besuchen und dort, 85 km entfernt von Djakarta, Erholung beim Baden in einem wunderschönen Bad zu suchen. Wir taten es weidlich; obwohl gerade Schwimmen in dem Maße, wie wir es trieben, das vorletzte sein dürfte. Aber die Trainer drückten beide Augen zu, wohl deshalb, weil ihnen de Schweiß nicht weniger in die Augen lief als uns. Auf dem Heimflug machten wir Station in Bombay, spielten gegen eine Stadtauswahl und gewannen 4:2 trotz wiederum sengender Sonne. Zu Hause angekommen, hatten wir runde 80 Stunden Flugreise hinter uns, waren gut einmal um die gute alte Erde geflogen, sahen aus wie die Sommerfrischler und froren erbärmlich. Es war immer noch Februar, was uns zuerst gar nicht schmecken wollte. So schnell kann man sich an schöne warme Sonne im Übermaß gewöhnen. Die großen Aufgaben. Ja, und nun? Ich habe jetzt mindestens drei Aufgaben, die ich mit genauso großem Fleiß und mit gleicher Begeisterung erfüllen möchte.

Ich muß meiner Frau all das Verständnis für die langen Jahre als Fußballerfrau danken. Ich glaube, ich muß die letzten Reste des Beweises erbringen, daß ich nicht nur Fußballer mit Leib und Seele, sondern auch ein Mustergatte sein kann, wenn sie das nicht schon lange weiß. Weiß sie es, tue ich es trotzdem. Ich werde mich außerdem gehörig ins Zeug legen müssen, um als Trainer meinen Mann zu stehen. Denn die Fußballpraxis ist nur eine Sache; die andere ist wohl noch schwerer, nämlich seine Erfahrungen im besten Maße weiterzugeben. Also hört das Lernen noch lange nicht auf. Und ich muß meinem Jungen mindestens soviel mit auf seinen Fußballweg geben, wie ich von meinem Vater mitbekam. Denn der Wolfgang ist nicht nur ebenso ein "Moppel", sondern ebenso ein besessener Fußballer, wie ich es war - bin. Ich werde sorgsam darüber wachen, daß ihm der Name Schröter nicht zum Rucksack wird, aber mehr noch, daß er ihm nicht Veranlassung dazu wird, seinen, unseren geliebten Sport leichter zu nehmen, als er genommen werden muß, soll die Leistung nicht ausbleiben. Und das erste, was ich ihm mit auf den Weg gebe, wird das Wort meines Vaters sein: "Denke nicht einen Augenblick, schon ein Fußballer zu sein, wenn du jemals einer werden willst." Gerade weil auch er noch der Kleinste in seiner Mannschaft ist.

Wir danken unserem "Moppel" Schröter dafür, uns beim Schreiben dieses Berichts unentwegt freundlich geholfen zu haben, und für seine Langmut, die er in den zahlreichen langen Unterhaltungen aufbrachte. Er, dem es nicht gerade recht war, daß über ihn und seinen Weg als Fußballer lang und breit geschrieben werden sollte. "Andere verdienen es mehr als ich, und ihr Weg ist sicher interessanter und lohnender. Nehmt den Willy Tröger, oder den Walter Rose oder den ´Spicke´. Die haben es mehr verdient", sagte er uns, als wir unsere Absicht äußerten. Aber wir haben ihn gewählt, weil er der Kleinste und doch einer der Größten war und ist. Aber wir betonen es noch einmal: Mit der Beschreibung seines Fußballerlebens, die unvollkommen sein muß, wollen wir ihn nicht herausstellen. Wir haben versucht, den Weg des Fußballers Günter Schröter zu beschreiben, weil er an der Stelle all derer stehen sollte, die es wie er verdient haben, sie und ihre Zeit als Fußballer zu würdigen, und sei es nur in dieser Form. Und noch eines, lieber "Moppel", wir haben den Fußballer Schröter beschrieben, niemals abgeschrieben.

Willi Conrad, Neue Fußballwoche, 23.07.1963