Weil ich der Kleinste war - Teil 6

Der Kern der Dinge

Tatsache ist, daß unser Abstieg außerordentlich tragisch war. Tatsache aber ist es auch, daß wir diese Tragik an verkehrter Stelle suchten und sie in unserer grenzenlosen Enttäuschung damals auch fanden, denn schließlich hing alles an einem einzigen Spiel, dem letzten des Spieljahres 1956 gegen den SC Motor Karl-Marx-Stadt. In diesem Kampf zweier Abstiegskandidaten wirkte bei uns der Dresdner Legler als Halblinker mit, der, wie sich dann herausstellte, nicht spielberechtigt war. So nützte es also gar nichts, daß wir dieses "ihr oder wir" für uns entschieden. Es nützte nichts, daß mir eine Viertelstunde vor Schluß der Treffer zum Sieg gelang, auch die Freude der 10.000 Berliner Anhänger, die wir über ein ganzes Spieljahr hinweg mehr oder weniger, meistens jedoch mehr verärgert hatten, auch diese Freude war umsonst. Vierzehn Tage später wußten wir es: Leglers Mitspielen war nicht in Ordnung, die Punkte aus diesem letzten Kampf gehörten uns nicht.

Es gab damals nicht wenige, die unseren Abstieg allein in dieser Tatsache sahen und meinten, wir hätten die Oberligazugehörigkeit am grünen Tisch verloren. Aber man soll sich nichts vormachen. Dieser Grund stimmt zwar, aber er sticht nicht, weil er den Kern der Dinge nicht trifft. Natürlich kann ein Spiel entscheidend sein, auch für den Auf- oder Abstieg. Ein einziges Spiel kann schließlich den Weg nach oben frei machen oder, wie in unserem Beispiel, die Falltür aufstoßen. Aber war es denn wirklich so? Heute läßt sich leichter darüber sprechen als damals. Nein, nicht dieses letzte Spiel und nicht das unberechtigte Mitwirken Leglers gaben uns den Schubs abwärts. Wir waren vielmehr über 26 Spiele hinweg nicht in der Lage gewesen, von der abwärts geneigten Bahn wegzukommen. Von Anbeginn an hatten wir uns unter den Schlußlichtern herumgedrückt. Erst das fünfte Spiel hatten wir gewinnen können, für Freunde und Gegner unerklärlich.

Wie jede Elf hatten auch wir immerhin über mehr als 20 Spiele hinweg Gelegenheit gehabt, den Kurs zu ändern. Wir hatten es nicht vermocht, sondern in den immer krampfhafteren Bemühungen nach Methoden gesucht, die einer Mannschaft mit unserer Spielanlage einfach nicht zuträglich waren. Schon bald kämpften wir weniger um eine Leistungsverbesserung, als vielmehr gegen ein drohendes Unheil. Wir fanden einfach nicht den Weg nach oben, weil wir zu angespannt nach oben und voller Sorge nach unten blickten. Und in gleichem Maße, wie der Abgrund auf uns zukam, wurden wir kurzsichtiger. Daß wir trotz allem keine schlechte Mannschaft waren, bewiesen wir in dem nicht minder schweren Kampf um den Wiederaufstieg. Schade war nur, daß wir durch unsere schwachen Spiele 1956 einen Teil der Berliner Fußballzuschauer offenbar unversöhnlich gestimmt hatten. Wir spürten das in den nächsten Jahren, vielleicht sogar noch heute.

Die Rolle der Zuschauer

Ich habe es niemals deutlicher erfahren, als gerade in Berlin, wie schwer es ist, ein kritisches Fußballpublikum zum bedingungslosen Anhang zu machen. Und ich habe es hier bestätigt gefunden, daß der Begriff "Zuschauer" fehlerhaft ist. Zuschauer? Welcher richtige Fußballfreund schaut denn nur zu? Zuschauer? Das klingt nach Passivität. Aber gibt es denn passive Zuschauer? Ich habe noch keine kennengelernt. Ganz im Gegenteil. Jeder richtige Zuschauer ist aktiver Mitgestalter des Spiels. Sein Verhalten beeinflußt im weitesten Maße die Leistung des Spielers. Zwischen beiden besteht eine ganz enge Wechselbeziehung. So richtig es ist, daß die Leistung des Aktiven die Anteilnahme des Publikums herausfordert, so logisch ist es auch, daß die spürbare Reaktion des Publikums die Leistungen der Aktiven beeinflußt - so oder so.

Die Rolle des echten Fußballzuschauers ist viel größer und bedeutender als die des "Zuschauers". Man kann gegen eine Wand von Tausenden Zuschauern anrennen, und man kann vom Begeisterungssturm weit weniger Anhänger vorwärtsgetrieben werden. Worin besteht denn der Vorteil eines Heimspiels? Was bringt denn den Heimvorteil? Daß man nicht erst die von vornherein vorhandene Voreingenommenheit gegen die eigene Elf umwandeln muß in Anerkennung der Leistung. So gesehen, scheinen wir recht selten Heimspiele gehabt zu haben. Und da wir wohl selbst ein gut Teil Schuld daran haben, sei es den Berlinern in die Hand versprochen, das wird sich ändern, eben weil wir sie als besonders sachkundig und kritisch schätzen. Zeit wird's.

Lampenfieber oder Bierruhe

Für mich wurde die Zeit in Berlin in mehrfacher Hinsicht ein neuer Abschnitt meines Fußballerlebens. Es wurde nicht nur ein neuer, sondern auch einer, der mit jedem neuen Jahr neue, größere Aufgaben brachte. Nach und nach war ich nicht mehr nur der Kleinste, ein Umstand, an den ich mich langsam gewöhnt hatte, ich wurde auch einer der älteren Spieler. Und fehlende Zentimeter auszugleichen, das geht ja noch an, aber leistungsmäßig gegenüber Jüngeren nicht abzufallen, das ist schon eine andere Sache. Außerdem aber, und das machte die Angelegenheit noch schwieriger, schleppte ich den Rucksack mit herum, Nationalspieler zu sein. Das setzte Maßstäbe, die gehalten werden mußten. Das setzte ständig neue Bewährung voraus. Das verlangte ein Höchstmaß an Fleiß und Trainingsarbeit. Hatte ich als junger Fußballer Einzeldinge neu erlernen können, so mußte ich jetzt mit größter Intensität alles, was ich mir mühsam angeeignet hatte, erhalten und immer wieder neu auffrischen.

Wie gut, daß ich da tief innen die ersten Worte meines Vaters sitzen hatte: Keinen Augenblick glauben, du wärst schon ein Fußballer. Denn wie leicht ist es als älterer Spieler zu sagen: Jetzt reicht es, mehr kannst du nicht lernen. Da muß man eben alles tun, das Gelernte zu vervollkommnen, so oft und so intensiv, daß es aussieht, als wäre das alles gar nichts. Manchmal, wenn mir ein Trick oder wenn mir Pässe gelungen waren, die einen oder gar mehrere Gegner ausschalteten, bin ich gefragt worden: "Moppel, wie gelingt dir das? Woher nimmst du den klaren Kopf in solchen Situationen, um so schnell schalten zu können?" Und ich mußte die Schultern zucken und die Antwort schuldig bleiben. Ich wußte eben nur, da gehört der Ball hin, und dann mußte er eben dahin. Das hat sicher mit Klugheit viel weniger zu tun als mit Überblick und wenn es hoch kommt, mit so etwas wie Fußballsinn durch Erfahrung. Aber von allein kommt das sicher auch nicht. Oder man fragte mich: "Sag mal, bist du eigentlich nie aufgeregt?" Wenn die wüßten, was ich alles tun mußte, um mein Lampenfieber niederzuringen.

Ich bin sicher, es gibt keine Fußballer, die nicht immer wieder neu aufgeregt sind. Es gibt höchstens solche, denen man die Erregung nicht anmerkt. Ohne Aufregung kann nur der sein, der von der Vollkommenheit seines Könnens so sehr überzeugt ist, daß er keinen Grund hat, aufgeregt zu sein. Und wer ist das schon? Der ist kein Fußballer, der ist überheblich. Aber es ist richtig, ich habe das oft erfahren, daß jede Aufregung an einem Punkte wie weggeblasen ist. Man zittert vor dem Lampenfieber beim Umziehen, wird pedantisch und umständlich, nur um die träge dahinfließenden Minuten vor dem Anpfiff zu überbrücken. Selbst beim Warmmachen verläßt einen diese Unruhe nicht. Aber dann, dann kommt die Erlösung: der Pfiff des Schiedsrichters. Und es ist, als ließe die Konzentration auf das Spiel keine Aufregung mehr zu. Im Winter zum Beispiel. Da zittert man und weiß nicht zu sagen, ob vor Kälte oder vor Aufregung.

Aber mit dem Anpfiff vergißt man sogar die Jahreszeit und merkt höchstens, wenn man sich beim Sturz auf dem gefrorenen Boden die Knie aufgeschunden hat oder sich den Schnee aus den Ärmeln schütteln muß, daß es ja eigentlich kalt und Winter ist. Nur dann, wenn so gut wie alles mißlingt, wenn das undeutlich ans Ohr dringende Gemurmel des Publikums deutlich als Mißfallen auszumachen ist, ist die Aufregung wieder da - und hindert. Und dann kämpft man einen mehrfachen Kampf, gegen die eigene miese Form, gegen den Gegner und gegen die Aufregung. Wie schwer es ist, sich in solchen Momenten zu fangen, sich zu steigern, das kann ich nicht beschreiben. Dann braucht es nicht nur ein hohes Maß an fußballerischem Können und unbändigem Wollen, sondern mehr noch die Kraft eines guten Kollektivs und die Unterstützung eines verständnisvollen Publikums. Und wenn es der Fußballteufel will, fehlt gerade dann das eine oder das andere. Mein erstes Spiel in der Auswahl unserer Republik liegt schon weit vor dem ersten offiziellen Länderkampf. Ich war also kein ganz heuriger Hase mehr, als wir zum ersten Mal als Nationalmannschaft der DDR antraten.

Erfahrungen in der Auswahl

Nachdem den Realitäten endlich Rechnung getragen wurde und der Deutsche Fußball-Verband ordentliches Mitglied der FIFA geworden war, fuhren wir im September 1952 zum ersten offiziellen Länderkampf gegen Polen. Es wurde kein gelungener Start. Wir verloren 0:3, obwohl wir uns für den Aufgalopp im internationalen Rennen einen Sieg sehnlichst gewünscht hatten. Aber unsere Hoffnungen waren größer als die realen Möglichkeiten. Mit diesem Spiel fing ich an, meine Einsätze in der Nationalmannschaft zu zählen. Es wurden 39, und zählt man wohlwollend noch meine Abschiedsvorstellung gegen England hinzu, ist es sogar eine runde Summe. Leicht hatten wir es in der Nationalmannschaft nie gehabt. Die Erfolge stellten sich nicht allzuoft ein. Heute ist die Bilanz schon beinahe ausgeglichen. Von 51 Kämpfen haben wir 17 gewonnen, 25 verloren und 9mal unentschieden gespielt.

Und bedenkt man, daß die Gegner in den letzten Jahren immer stärker wurden, ist das sogar eine gute Bilanz. Die Berufungen in die Auswahl waren nicht nur ehrenvoll, sie brachten auch eine Zeit schönster Erinnerungen und unermeßlich wertvolle Erfahrungen. Besonders wertvoll war die Erkenntnis, in dem Kollektiv der Nationalmannschaft treue, hilfsbereite Freunde gefunden zu haben, die man sonst nur als unerbittliche Gegner aus harten Punktspielen kannte. Punktspielgegner vereinten sich zu einer Mannschaft, die mit allen Kräften an einem Strang zogen. Manchmal reichte diese gemeinsame Kraftanstrengung sogar zum Siege. Und eine weitere Erfahrung: Unsere Gegner kochten auch nur mit Wasser, aber die meisten mit größerem Feuer und einige von ihnen auch mit besseren technischen Mitteln. Wir haben eine Menge Lehrgeld bezahlen müssen, aber es zahlte sich aus.

Willi Conrad, Neue Fußballwoche, 16.07.1963