Weil ich der Kleinste war - Teil 4

Brandenburgs stärkste Mannschaft war damals die von Konsum Nord, aus der später Motor Brandenburg Süd hervorging. Was liegt näher, als daß ich schon bald nach meiner Rückkehr zu den Stammzuschauern gehörte. Das hatte außer dem nie erloschenen Interesse am Fußball und allem, was damit zusammenhing, zwei ganz besondere Gründe, von denen wiederum einer nur unmittelbar mit dem Fußballspiel zusammenhing. Erst einmal wollte ich beim eifrigen Zuschauen natürlich sehen, ob es für mich überhaupt Zweck hätte, unter Umständen mitzumachen, ob meine Leistungen, von denen ich nach einer so langen Zwangspause nicht mehr recht überzeugt war, ausreichen würden. Und je öfter ich von meinem Stammplatz hinter der Barriere zuschaute, desto größer wurde der Wunsch und der Ehrgeiz, wieder dabeizusein und zu beweisen, daß ich mithalten könnte. Mit jedem Mal mehr zuckte es stärker in den Beinen.

Der schönste Erfolg

Außerdem aber, und das ist Grund Nummer zwo, war mir schon bei meinen ersten Besuchen der Musterwiese ein Mädel aufgefallen, deren Fußballbegeisterung vielleicht sogar meine noch übersteigen mußte. Es versäumte kein Spiel. Jedenfalls war es immer da, wenn ich ebenfalls am Rande stand. Aber dieses Mädel war nicht nur begeistert, sondern ganz offensichtlich auch äußerst versiert. Man konnte herrlich fachsimpeln mit ihm. Was soll ich lange drumherumreden, bald war mein Stammplatz nicht nur auf dem Sportplatz, sondern neben diesem Fußballmädel. Nur brachte es mir weit weniger Interesse entgegen als dem Fußball auf dem Felde. Und einmal gab es seiner Meinung über mich ganz deutlich zum Ausdruck, als es mit einem Seitenblick rundheraus fragte: "Wenn Sie soviel vom Fußball verstehen, warum spielen Sie dann nicht mit, Herr Schröter?" Ich blieb vorerst noch die Antwort schuldig, weil ich keine wußte. Dann bekamen wir eines Tages Besuch. Vaters alter Mannschaftskamerad, Torwart Fritz Müncher, kreuzte auf.

Eine ganze Weile unterhielten sie sich beide über alles mögliche, bis es meinem Vater offenbar zuviel wurde. "Also Fritz", meinte er trocken, "was ist los? Um mit mir in Erinnerungen zu kramen, bist du doch nicht hergekommen. Wenn du etwas vom Jungen willst, dann rücke heraus damit." "Sag mal", fragte er mich direkt, "wann gedenkst du denn endlich wieder anzufangen? Lange genug drückst du dich doch schon herum." Da gab es keinen Grund, den er anerkannt hätte. Auch nicht den, daß meine Kraft möglicherweise noch nicht reichen könnte. "Kraft. Natürlich wird sie noch nicht für ein ganzes Spiel ausreichen", räsonierte er. "Aber deshalb sollst du ja gerade anfangen. Von nichts wird nichts. Außerdem warten wir auf dich." Schon 14 Tage später machte ich mit, im dritten Hieb. Die Kondition war tatsächlich noch überbescheiden, selbst für die dritte Mannschaft. Aber das bekam ich schon hin. Denn halben Kram gab es nicht. Entweder oder.

Hatte ich einmal wieder angefangen, so wollte ich natürlich auch sobald wie möglich Leistungen bringen, die mich, meinen Vater und meine Freunde befriedigten. Außerdem gab es noch etwas, das meinen Ehrgeiz verdoppelte. Zu meiner größten Überraschung und riesigen Freude hatte ich im ersten Spiel in der Dritten unter den paar Zuschauern auch Fräulein Rupp, meine Nachbarin vom Spielfeldrand, bemerkt. Sie schaute auch weiterhin zu, als ich in die zweite Mannschaft aufrückte, und sie war dabei, als ich endlich in der Ersten spielte. Meinen Einstand hatte ich ausgerechnet in einem Auswärtsspiel gegen Halle gegeben. Bei diesem 3:3 gelangen mir alle drei Tore. Das gibt natürlich Auftrieb und Selbstvertrauen. In den weiteren Spielen war sie dann schon nicht mehr nur der Zuschauer, auf den ich am meisten wartete, sie war auch einer, der mich am offensten kritisierte. Und als ich im Sommer entschlossen war, zur Volkspolizei nach Potsdam zu gehen, da stand fest, daß sie mitgehen würde, als Frau Schröter. Das war der schönste und wertvollste Erfolg, den ich jemals errang.

Siebenmeilenschritte

In dem Kollektiv der Volkspolizei in Potsdam gab es keinen Pardon. Da zählte einzig die Leistung, ohne Rücksicht auf die immer noch fehlenden paar Zentimeter Körpergröße. In diesem Kollektiv prächtiger Fußballer mußten bei Trainingsfleiß und Ausdauer die Leistungen ganz einfach kommen. Ihnen verdanke ich es, sogleich Tritt gefaßt zu haben. Ihnen verdanke ich auch im Grunde genommen meine ganze weitere Entwicklung. Ich nahm mir ein Beispiel an der kraftvollen Art Manfred Michaels als Verteidiger, an der unerschütterlichen Ruhe unseres Torwarts Walter Hindenberg. Mir imponierte der Elan des kleinen Heinz Merbs, der doch nicht größer war als ich. Und ich bewunderte den großartigen Kämpfer Herbert Schoen. Die Sportlermoral dieses Mannes steigerte nicht nur meine Energie, sondern die aller Mannschaftskameraden.

Ihm wollte ich nacheifern, ihm und unserem Linksaußen Hannes Matzen. Dem blonden Mann deshalb, weil er deutlich demonstrierte, daß man absolut kein Riese zu sein brauchte, um herrliche Kopfballtore zu machen. "Springe immer eine Kleinigkeit früher als der Gegner", riet er mir. "Nur eine ganze Kleinigkeit. Aber das ist das Wichtigste. Sonst kommst du nie an den Ball. Und halte die Augen offen, auch dann, wenn der Ball noch so dreckig sein sollte." Das war natürlich nichts anderes als das, was die Trainer immer wieder predigten. Aber der Hannes war der lebendige Beweis für die Bedeutung dieser These. In dieser Zeit trainierte ich Kopfballstöße mit und ohne Gegner, mit sauberem und mit schmutzigem Ball, bis ich fast Hornhaut an der Stirn hatte. Aber es nützte.

War die Zeit in Potsdam der erste große Schritt vorwärts im Fußball unserer neuen Sportbewegung, so ging ich zusammen mit den meisten meiner Kameraden aus der Mannschaft der Deutschen Volkspolizei den nächsten noch bedeutungsvolleren, ein Jahr, nachdem ich zu ihnen gekommen war. Es war im doppelten Sinne ein großer Schritt. Er führt mich weit weg von der engeren Heimat bis nach Dresden. Die Spieler unserer Elf bildeten den Stamm der neuformierten Mannschaft der SV Volkspolizei Dresden. Es war der gewaltige Schritt mitten hinein in die Oberliga. Daß ich nicht zurückblieb, sondern den Siebenmeilenschritt einigermaßen erfolgreich mitmachte, verdanke ich in erster Linie meinen Freunden in diesem prächtigen Kollektiv, das durch die Größe der neuen Aufgabe über sich hinauswuchs und eisern fest zusammenstand.

Der große Augenblick

Diese arbeitsreichen und schönen Fußballjahre in Dresden brachten meinen Kameraden und mir eine ganze Menge sportlicher Höhepunkte. Sie brachten 1953 den Titel eines Deutschen Fußballmeisters, Berufungen in die Nationalmannschaft und herrliche Reisen ins Ausland. Aber ein Ereignis möchte ich allen anderen voranstellen, obwohl es zeitlich noch gar nicht an der Reihe ist: die erste Begegnung mit dem Mann, dem der deutsche Sport so unendlich viel verdankt, meine erste Begegnung mit Walter Ulbricht. Zusammen mit Herbert Schoen, Jochen Müller, Kurt Fischer, Helmut Nordhaus, Walter Schmidt, Walter Schulz und Walter Rose sollte ich als Meister des Sports ausgezeichnet werden. So warteten wir mit den Sportlern anderer Sektionen, die ebenfalls die hohe Auszeichnung erhalten sollten, im Senatssaal der DHfK aufgeregt auf den bedeutenden Augenblick. Selbst unser Ältester, Trainer Kurt Vorkauf, der sogar den Titel "Verdienter Meister des Sports" erhalten sollte, konnte uns nicht sonderlich beruhigen, weil er nicht weniger freudig erregt war. Wir alle kannten Walter Ulbricht und seine herzliche Verbundenheit mit den Sportlern.

Die Auszeichnung aus seiner Hand zu empfangen, verdoppelte den Wert und die Vorfreude darauf. Eigenartigerweise legte sich unsere Unruhe aber sofort nach den ersten Worten des Staatsmannes. Er fand genau den richtigen Ton und schaffte es, uns den Augenblick in seiner vollen Bedeutung erfassen zu lassen. Aber als ich ihm gegenüberstand, den Titel aus seiner Hand zu empfangen, war die Erregung wieder voll da. Vor Aufregung hätte ich beinahe seine Rechte verfehlt. Er aber griff fest, zu und rettete die Szene. Dann half er mir mit herzlichen Worten über meine Befangenheit hinweg, so daß ich meinen Dank sogar laut und deutlich herausbrachte. Eines aber habe ich ganz genau in Erinnerung behalten und mir fest eingeprägt. "Die hohe Auszeichnung bedeutet nicht nur Ehre", sagte Walter Ulbricht damals unter anderem zu uns, "sie schließt eine ebenso hohe Verpflichtung ein, die ihr allen Werktätigen gegenüber habt. Vergeßt das nie. Der stolze Titel ist die eine Seite, die Verpflichtung aber die andere. In der Art, wie ihr diese Verpflichtung einlöst, beweist ihr euer Klassenbewußtsein, eure Verbundenheit zur Arbeiterklasse und zu allen Menschen unserer Republik. Enttäuscht sie nie."

Willi Conrad, Neue Fußballwoche, 02.07.1963