Weil ich der Kleinste war - Teil 3

Eine Flanke segelte durch den Strafraum des Gegners. Mit dem Kopf wäre ich nie herangekommen. Aber die Möglichkeit mußte genutzt werden. Dann ging alles blitzhaft. Ehe ich mich versah, und ehe ich über meinen Mut erschrocken sein konnte, hing ich plötzlich in der Luft mit dem Rücken zum Tor. Der rechte Fuß flog über meinen Kopf, traf den Ball voll. Und dann lag ich im Gras. Tatsächlich blieb mir die Luft weg. diesmal aber nicht vor Schmerz und nicht, weil ich falsch gelandet war, sondern weil ich im nämlichen Augenblick merkte, daß es eingeschlagen hatte. Ich hatte mit einem Fallrückzieher ein Tor geschossen, obwohl ich mir doch geschworen hatte, nie wieder einen zu versuchen. Wir haben das Spiel dann noch gewonnen, aber auch das erscheint mir heute nicht wichtig.

Viel wichtiger war, daß mir bewußt geworden war, wie harmlos ein Fallrückzieher für den Schützen und wie gefährlich er für den Torwart sein kann. Aus war es mit der Angst davor, weg waren alle Hemmungen Der Fallrückzieher wurde nun wieder fleißig trainiert, von mir - und von den meisten Mannschaftskameraden. Das Erstaunlichste aber kam wenig später. Obwohl ich nach wie vor der Kleinste und obwohl ich noch nicht älter als 16 Jahre war, kam ich in die A-Jugend und dann sogar in die Jugendauswahl des Landes Brandenburg. Meinem Vater war das nicht einmal recht. "Das kann nicht gut gehen", meinte er. "Das geht zu schnell, und ob du es körperlich schaffst, ist die Frage."

Mit 17 war Schluß

Aber wie unbegründet war seine Sorge. Andere Leute machten sich solche Gedanken nicht. Mit 17 Jahren holten sie mich zum Arbeitsdienst. Der "totale Krieg Großdeutschlands" brauchte Kanonenfutter. Und so trat das ein, was wir immer befürchtet hatten. Der Krieg hatte auch unsere Familie gefunden und nicht haltgemacht davor. Für seine Zwecke gab es nicht die Bedenken, ich könnte zu klein sein. Dafür war offenbar jede Größe recht. "Junge", hatte mein Vater immer gesagt, "komm bloß nicht auf den Gedanken, dich etwa freiwillig zu diesem Verbrechen zu melden. Für diesen Wahnsinn sind alle zu schade. Ihn freiwillig verlängern zu helfen ist kein Heldentum sondern Dummheit. Aber was half´s? Ich mußte wie so viele Gleichaltrige das aufgeben, was ich am meisten liebte, das Zuhause und den geliebten Fußball, und es gegen das eintauschen, was ich am meisten haßte, gegen Uniform, Drill und Krieg.

Einmal kam ich noch nach Hause. Aber an Fußball war nicht zu denken. Denn schon nach drei Wochen holte mich die "glorreiche Wehrmacht". Und ich war noch nicht einmal aus dem Alter für Jugendmannschaften heraus. Aber ich darf nicht klagen. Ich weiß, daß es anderen Jungen in meinem Alter weit schlechter erging, daß andere in der schmutzigen Uniform weit Furchtbareres durchmachen und durchstehen mußten. Mich schleppten sie durch die Ausbildung, dann nach Dänemark, ins ehemalige Pommern und schließlieb Schritt für Schritt im Zuge der "siegreichen Absetzbewegungen" bis nach Berlin. War alles schon furchtbar genug, so fiel mir das Durchhalten unendlich schwer, da ich der ganzen vermaledeiten Sache der "vaterländischen Pflichterfüllung" ohne den geringsten Funken der Begeisterung, ja mit abgrundtiefer Verachtung gegenüberstand.

Arbeit unter Tage

Es war für mich und für viele meiner Kameraden eine schwere Zeit der schlechten Lehre, auf die ich liebend gern verzichtet hätte. Am 2. Mai 1945; einen Tag vor meinem 18. Geburtstag, war der unselige Krieg für mich zu Ende. Nicht zu Ende allerdings war die Zeit seiner schlimmen Folgen. Die begann erst. Ich wurde einer im großen Heer der Kriegsgefangenen. Im ehemaligen Oberschleien arbeitete ich, unter Tage. Und ich arbeitete schwer und fleißig, das darf ich von mir sagen. Ich hoffe, wenigstens einen kleinen Teil mit dazu beigetragen zu haben, das riesengroße Unrecht wiedergutzumachen. das der faschistische Krieg gerade diesem, unserem Nachbarvolk, angetan hat. Heute weiß ich, wie wenig diese Arbeit damals, und wäre ich noch so gut gewesen, ausreichen konnte, das maßlose Leid zu mildern und ungeschehen zu machen. Ungeschehen oder vergessen zu machen, ist ohnehin nicht möglich.

Möglich aber war es, nachzuweisen, daß nicht alle Deutschen mit Faschisten gleichzusetzen sind. Wir versuchten es, so gut wir es konnten, durch unsere Arbeit. Ich will nicht sagen, ich hätte damals schon bewußt politisch gedacht und dementsprechend gehandelt. Dazu fehlte mir, trotz der rechten Erziehung zu Hause, eine ganze Menge. Es war gar nicht leicht, den anfänglichen, ungerechtfertigten Groll gegen die Menschen, in deren Lande wir arbeiteten. umzuwandeln in Haß gegen die Verbrecher, die uns mit diesem unheilvollen Krieg eine üble Suppe eingebrockt hatten, die wir nun zusammen mit allen leidtragenden Menschen auslöffeln mußten. Es war recht schwer, in unserer Niedergeschlagenheit Verständnis aufzubringen für die bittere Notwendigkeit unserer moralischen Pflicht, unmenschliches Leid wenigstens einigermaßen lindern zu helfen.

Der neue Beginn

Im November 1948 war ich wieder zu Hause, über vier Jahre, nachdem ich von daheim fortmußte. Zu meiner größten Freude war alles in Ordnung. Familie Schröter war glimpflich davongekommen. Vater war schon lange wieder da. Er war zum Glück nur acht Tage Soldat gewesen und arbeitete schon im alten Werk, das jetzt Stahl- und Walzwerk hieß. Mutter war auch da und meine Schwester. Alles hätte also sein können wie zuvor. Aber es war nicht so. Als Junge war ich von zu Hause fort, und als erwachsener Mann war ich wiedergekommen. Und lagen auch nur etwas mehr als vier Jahre dazwischen, es hatte sich doch so vieles grundlegend geändert. Ich kam in ein Leben zurück, das sich in allen wichtigen Momenten völlig verändert hatte. Ich trat in ein für mich gänzlich neues Leben, dessen Grundlagen ich erst erkennen und verstehen lernen mußte. Mir war ja nur der Zustand bekannt, gleich vielen eine bedeutungslose Figur für die Machthaber zu sein, deren Leben willkürlich und ohne eigenes Wollen gestaltet und schließlich mißgestaltet wurde.

Jetzt aber wurde von mir verlangt, das eigene und das Leben der Gemeinschaft aktiv mitzugestalten. Daran mußte man sich erst gewöhnen. Das verlangte eine gänzlich neue Einstellung. Eigenartigerweise aber gelang mir das viel leichter, als ich es für möglich erachtet hatte, weil außer meinem Vater genügend Menschen in unserem Bekanntenkreis waren, die mir das Zurechtfinden erleichterten. Es war verständlich, daß sich meine ersten Gedanken nicht gleich um Fußball drehten. Es gab andere, größere Sorgen. So bemühte ich mich erst einmal um Arbeit. Und das, was ich für schwierig gehalten hatte, erwies sich als ganz einfach. Ich wurde Schlosser in der "Thälmann-Werft". Nach Fußball stand mir vorerst nicht der Sinn. Hinzu kam, daß viele meiner früheren Sportfreunde aus dem Krieg nicht mehr zurückgekehrt oder durch die Kriegswirren verschlagen worden waren. Es fehlte die vertraute Umgebung, um sofort wieder Fuß fassen zu können. Aber das ergab sich dann zwangsläufig. Es war im Januar 1949.

Willi Conrad, Neue Fußballwoche, 25.06.1963