Weil ich der Kleinste war - Teil 2

Der ganz kleine Beginn

"Schade, wenn dein Kleiner nur nicht so klein wäre. Fußballspielen kann er, wenn er bloß ein bißchen stabiler wäre. Aber melde ihn doch an. Vielleicht wird doch was aus ihm." Damit fing es an. Ich hätte meinem Vater auch keine Ruhe gegeben, wenn ich die Worte nicht gehört hätte. Aber nun wollte ich unbedingt. Mein Vater gab nur zu gerne nach. Und im März 1937, ich war noch nicht ganz zehn Jahre alt, nahm mich mein Vater mit und meldete mich an. Von da an gehörte ich zu einer der Schülermannschaften des Vereins meines Vaters. Und wie weiter? Fußballschuhe? Woher nehmen? "Du willst doch spielen", sagte mein Vater. Und die Betonung auf Du war nicht zu überhören. "Also besorg dir welche." Ich habe mir welche besorgt. Aber fragen Sie nicht, wie und wie lange es dauerte, bis ich die ungeheure Summe für ein paar lausige Töppen beieinander hatte, groschenweise.

Wie stolz war ich, als ich das erste Mal in der 3. Schülermannschaft mitspielte und hinterher ein Lob meines Vaters einheimste. Aber er lobte nicht nur. Er gab mir an diesem Tag eine Lehre mit auf den Weg, die ich nie vergessen habe. "Höre gut zu, mein Junge", sagte er damals. "Jetzt gibt es kein Zurück hehr. Jetzt heißt es Durchhalten. Und merke dir, richte dich immer danach und halte dich daran, auch wenn du einmal viel besser spielen solltest als jetzt, ja, besonders dann: Man wird nie ein guter Fußballer, wenn man auch nur einen Augenblick glaubt, schon einer zu sein." Wie oft habe ich mich vor allem in späteren Jahren gerade an diese Worte erinnert. Ich glaube, sie wurden mir zur Richtschnur überhaupt. Nicht so sehr in jüngeren Jahren, doch das liegt wohl doch daran, daß man als Junge für weise Belehrungen Älterer nur ein halbes Ohr hat.

Aber es waren genügend Menschen da, die mich in ähnlicher Weise zurechtstutzten. Vorerst spielte ich Fußball, und damit allen Fasern meines Herzens. Ich spielte es so ausgiebig und mit soviel kindlichem Unverstand für die rechte Dosierung, daß die Krisen gar nicht ausbleiben konnten. Ich übertrieb eben. Oftmals war ich abends so erschöpft, daß ich ohne Grund zu weinen begann, wenn mich nur einer laut ansprach. Und wieder war es mein Vater, der bei allem Verständnis für meine Begeisterung bremste und das Richtige tat. In der Beckerstraße wohnte damals der Schuhmacher Michaelis, der nicht nur helfend einsprang, wenn es galt, die Fußballschuhe für ein Dankeschön und ein paar der notwendigsten Pfennige zu reparieren. Er nahm sich damals auch der Schüler des BBC an.

Mit ihm hatte mein Vater gesprochen als es ihm mit mir und meinem Übereifer zu bunt wurde. Von da an kam ich unter die Fittiche Vater Michaelis'. Ich will sagen, von da an übte ich halbwegs systematisch. Und es zahlte sich aus. Wohl war das noch kein Training unter der fachkundigen Hand eines ausgebildeten Übungsleiters, wie es die Fußballjungen heute bei uns kennen. Aber immerhin, wir lernten einiges, bestimmt aber erkennen, daß Fußballspielen nicht nur Lust und Begeisterung braucht, sondern auch ein gewisses Maß an Disziplin und Beharrlichkeit. "Es genügt nicht, gut spielen zu wollen", sagte Vater Michaelis immer, "man muß auch lernen wollen, besser zu spielen." Und sooft es seine Zeit erlaubte, trainierte er nach diesem Grundsatz mit uns.

Die Sache mit dem Salzkuchen

Außerdem aber übte ich, wie wir alle, bei allen möglichen und vor allem unmöglichen Gelegenheiten. Dieser Umstand führte dann auch prompt zur Beinahekatastrophe. Ich weiß es noch wie heute, denn die Strafe war so ungeheuerlich für meine Begriffe, daß mir ähnliches nur einmal passierte. Meine Mutter hatte mich um Salzkuchen geschickt. Die paar hundert Meter zum Bäcker waren für mich keine Entfernung. Erschwert wurde die Aufgabe lediglich dadurch, daß der Weg ausgerechnet durch eine Straße führte, in der meine Freunde Fußball spielten. Auf dem Rückweg konnte ich nicht widerstehen. Warum? Der Fußballteufel muß mich geritten haben. Vergessen waren Auftrag und Salzkuchen, das heißt, die Salzkuchen nicht. Ich verdrückte während der Knödelei nämlich einen nach dem anderen. Und erst als sie alle waren, fiel mir mein eigentlicher Auftrag ein.

Der Gedanke daran und mein schlechtes Gewissen trieben mich mit Raketentempo nach Hause. Aber es war schon zu spät. Mein Vater war schon zur Arbeit gegangen. Er hatte nicht auf die Salzkuchen gewartet. Dafür erwartete mich ein Donnerwetter von den Ausmaßen einer mittleren Naturkatastrophe. Ich übergehe deshalb auch diese Stunden stillschweigend, weil ich glaube, daß sie nicht sonderlich wichtig sind. Nur soviel noch, ich spielte am Sonntag nicht. Und alle wußten schließlich, warum. Und das, obwohl ich schon in der Ersten spielte und es ein Vorspiel vor der Mannschaft meines Vaters war. Unter diesen Umständen genügte mir das eine Mal natürlich. Ich wetzte die Scharte aus, so gut ich konnte, und beschäftigte mich mit dem Ball, wenn es an der Zeit war. Dafür dann aber ausgiebig. Bald konnte ich einen Haufen Tricks, von den Männern abgeguckte, oder auch eigene tolle Dinger, sogar mit dem Tennisball.

Sonntags beim Spiel suchte ich dann nach Gelegenheiten, sie anzuwenden. Aber Vater Michaelis war trotzdem nicht zufrieden. "Deine Fummelei bringt nichts ein, weder dir noch der Mannschaft", meinte er. Und als ich mich gekränkt an meinen Vater hielt, bekam ich erst recht eine Abfuhr. "Es nützt gar nichts, mein Junge", sagte er, "oder es nützt sehr wenig, wenn du alle möglichen Tricks kannst. Dein ganzes bißchen Können am Ball ist nichts wert, solange nur du daran Gefallen findest und deine Kameraden in der Mannschaft nichts davon haben. Außerdem", meinte er abwinkend, "bringst du es ja nur mit dem rechten Bein. Was ist das schon". Das saß. Ich nahm diese Bemerkung wie eine Aufgabe. Von da an mußte das linke Bein herhalten, daß es eine Art war. Das fiel mir gar nicht so leicht, denn wie einfach war es doch immer wieder das zu üben, was man ohnehin schon konnte.

Und dann war da noch eine Sache, die mir zwar schmeichelte, die sich aber verteufelt auswirken kann, bedenkt man es mit der Erkenntnis, die man natürlich erst später haben kann. So kleine Knirpse, wie ich einer war, hatten es nicht allzu schwer, zum auserkorenen Liebling des erwachsenen Publikums zu werden. Die langen Kerle hatten es da weitaus schwerer, selbst dann, wenn sie nicht weniger konnten als wir Zwerge. Ist die Gunst der Zuschauer ohnehin schon auf der Seite des Kleinen, so wird sie natürlich noch größer, wenn dieser Kleine die Größeren narrt und ihm das auch noch gelingt. Natürlich spürt man das - und übertreibt. Erst viel später habe ich erfahren, daß sich mein Vater im Innersten herzlich über mich freute und auch ein wenig stolz auf mich war. Damals verspürte ich davon aber nie etwas.

Eher im Gegenteil, er rügte mich und meine Fummelei ernsthaft und mit drastischen Worten. "Nein, nein, Günter", wenn er mich Günter nannte, wurde es ernst. "So wird nichts daraus. Deine Spielerei erinnert mich immer an einen übereifrigen Friseur, der mit den tollsten Verrenkungen an einem herumfummelt und da und dort noch herumschnipselt, ohne etwas abzuschneiden, der so tut, also wolle er ein Kunstwerk machen und doch nur einen soliden Haarschnitt fertigbringt. Was du sollst, ist Fußball spielen, aber was du tust, ist blenden. Und das ist Mist. Ich hoffe, wir haben uns verstanden." Und ob ich verstanden hatte. Aber es war leichter zu verstehen, als es in der Tat zu beherzigen.

Auf in die Schlosserlehre

In der Folgezeit fiel das dann aber leichter als gedacht, weil andere Pflichten hinzukamen. Nach der Schulentlassung wurde ich Lehrling in dem Betrieb, in dem mein Vater arbeitete. Ich begann die Lehre als Betriebsschlosser. Das war 1941, und die Sorgen, die der unselige Krieg für alle brachte, schlichen sich auch in unsere Familie. Jeden Tag fürchteten wir, daß mein Vater zum Barras geholt werden würde. Es war Glück für uns, daß er als Facharbeiter vorerst noch unabkömmlich war und verschont wurde. Die Lehre als Betriebsschlosser war eine ernste und auch schwierige Sache für mich. Sie wurde noch erschwert dadurch, daß ich von den andern, größeren Lehrlingen recht oft wegen der fehlenden Zentimeter gehänselt wurde. Während nämlich alle völlig normal vor ihrem Schraubstock standen, brauchte ich einen Untersatz, um überhaupt mit der klobigen Schrubbfeile hantieren zu können. Aber auch das legte sich bald, denn ein bißchen wuchs ich ja auch. Auf alle Fälle schaffte ich 1944 meine Gesellenprüfung so gut wie die anderen auch. Auch der Fußball war zu der Zeit vom Krieg überschattet.

Es machte auch nicht mehr soviel Spaß, weil die damalige HJ ihre Finger überall, also auch im Fußball hatte. Aber unsere Jugendmannschaft hielt einigermaßen zusammen. Wir gingen weniger zum obligatorischen Dienst als vielmehr öfter geschlossen ins Kino. Auf alle Fälle liefen wir nicht auseinander. Unsere gemeinsamen Interessen, Fußball und alles, was damit zusammenhing, hielten uns bei der Stange. Ich spielte in der B-Jugend und fand vor allem in Otto Rinkenbach und Harry Prill gute Freunde. Allerdings war es in der Jugend schon weit schwieriger, sich als körperlich Unterlegener zu behaupten. War es bei den Schülern schon schwer, hier mußten die körperlichen Nachteile durch mehr Können am Ball unbedingt ausgeglichen werden, wollte man bestehen. Also mußte ich mit noch größerem Fleiß und mit viel mehr Ernst trainieren in der knappen Zeit, die die Arbeit ließ. Mit dem linken Bein hatte ich kaum noch Schwierigkeiten. Dennoch reichte es für meine Begriffe und nach Ansicht meines Vaters nicht aus.

Die Bruchlandung

Damals übte ich in aller Stille und ohne Beobachter an einer Sache, die mein mein Vater nur unvollkommen vormachen konnte, ich mußte den Fallrückzieher schaffen. Das war erstens schwer und zweitens schmerzhaft. Die dauernden Bruchlandungen auf dem Kreuz raubten mir fast den Atem, aber Gott sei Dank nicht den Mut. Als ich glaubte, ihn zu beherrschen, probierte ich ihn im Training vor den staunenden Freunden. Aber schon beim zweiten Versuch landete ich unglücklich steif auf dem Rücken. Ich lag da wie ein Stock, unfähig mich zu rühren oder gar Luft zu holen. Eine Ewigkeit, so schien es mir, lag ich da, die erschrockenen und ratlosen Kameraden um mich herum.

Als ich endlich wieder zu mir kam, war mein erster Gedanke: nie wieder. Ich hatte die Nase voll vom Fallrückzieher, noch bevor ich ihn richtig konnte. Das war eine trübe Zeit. Zum ersten Male war mir etwas nicht gelungen. Mein Selbstvertrauen hatte einen derben Knacks bekommen, bis zu jenem Spiel, das ich noch in Erinnerung habe, weil etwas Unerhörtes passierte. Gegen wen wir spielten, weiß ich gar nicht mehr, aber das ist auch nicht so wichtig. Wir lagen 1:2 zurück, obwohl uns vor heimischen Publikum viel gelang. Ich konnte mit mir zufrieden sein, weil mir kaum eine nutzlose Fummelei nachzuweisen war. Aber ein Tor brauchten wir, und das schien einfach nicht fallen zu wollen. Und dann fiel es doch und noch dazu so, wie ich es am allerwenigsten vermutet haute.

Willi Conrad, Neue Fußballwoche, 18.06.1963