Weil ich der Kleinste war - Teil 1

Wie verloren stand er da im riesigen Rund des Leipziger Zentralstadions, an jenem strahlend schönen Sommersonntag des 2. Juni 1963, der ausersehen war, für ihn der wehmütigste, aber auch einer der schönsten Tage seines Fußballerlebens zu werden. 90.000 Fußballbegeisterte auf den weiten Rängen, die spannungsfroh auf den Anpfiff zum Kampf der Nationalmannschaften der DDR und Englands warteten, dämpften ihre Stimmung, ließen ihre Blicke von den Spielern beider Mannschaften und schenkten sie dem einen Mann im Dreß der deutschen National-Elf, der ihn insgesamt 39mal und so lange Jahre mit dem Streifen am Armel als Kapitän getragen hatte. Er trug ihn an diesem denkwürdigen Tag zum letzten Male. Günter Schröter, unser "Moppel", ging dieses kleine Stückchen Weg seines Fußballerlebens, das für jeden Sportler arn schwersten zu gehen ist, weil es das letzte Wegstück ist. "Moppel" Schröter nahm Abschied vom aktiven Fußballsport. Und er nahm ihn so, wie wir es von ihm aus seinen vielen Kämpfen gewohnt sind: klug, bescheiden und ohne viel Federlesens und große Worte.

Günter Schröters Weg als Fußballer birgt nichts Sensationelles. Er ist auch nicht unbedingt typisch für die Entwicklung eines Sportlers. Die sportlichen Wege vom Beginn bis zur Höhe sind verschieden, und verschieden ist die Art, sie zu gehen. Aber so unterschiedlich sie auch sein mögen, alle führen sie über schwere, harte und holprige Stellen, über Umwege oder geradeaus, über Höhen und Tiefen, über schöne, glatte Strecken und an Punkte, die man nicht allein überwindet, wo die Hilfe der Kameraden nötig wird. Nicht anders hat es Günter Schröter erfahren. Er ist seinen Weg gegangen, der nicht leicht war, weil er es sich nie leiht gemacht hat. Er war immer der Kleinste, aber er lieferte den Beweis, daß es nicht die Länge, sondern die Größe ist, die den Wert des Sportlers ausmacht. Und er lieferte den Beweis, daß Talent allein nicht ausreicht, groß zu werden, sondern daß dazu mehr vonnöten ist: brennende Begeisterung und nie erlahmender Fleiß. Diese Eigenschaften zeichneten ihn aus, vielleicht gerade, weil er der Kleinste war.

Das Schwierigste vom Schweren

Als ich es noch nicht aus eigener Erfahrung anders wußte, glaubte ich, der Anfang sei das Schwerste. Seit dem Pfingstsonntag 1963 weiß ich, daß Aufhören weit schwieriger ist. Jetzt soll also Schluß sein mit Fußballspielen. Ich kann es noch gar nicht glauben und werde mich wohl nur schwer daran gewöhnen, obwohl es mein Wille war. Ja, Aufhören ist schwer und das Schwerste daran ist, den rechten Zeitpunkt zu erkennen. Für einen Fußballer, der mit Leib und Seele und außerdem noch mit dem Herzen am Ball, am Spiel und an seinen Mannschaftsfreunden hängt, jedenfalls glaube ich, das von mir sagen zu können, ist das eine unglaublich schwere Aufgabe. Aber die stellt er sich besser selbst, bevor sie ihm gestellt wird. Sie wird dadurch zwar nicht um einen Deut leichter, aber man ist nicht umsonst durch lange Jahre hindurch sportlich erzogen worden, um in diesem Moment sein sportliches Gesicht zu verlieren und traurig auf seinem Posten zu verharren, ihn im zwar verständlichen, aber nichtsdestoweniger dummen Selbstbetrug und mit dem Hinweis auf haufenweise Erfahrung und enorme Routine zu verteidigen, bis nicht einmal das mehr stimmt.

Nein, nein, Aufhören im rechten Moment ist doch kein Schlußmachen, sondern der Neubeginn für einen Jüngeren, Besseren, dem man seinen Posten nicht überläßt, sondern übergibt. Denn Fußball ist kein Spiel für Einzelpersonen, scndern das einer Mannschaft, in der jeder einzelne seine Rolle zu spielen hat. Und nicht die Alten haben das Recht auf die besten Rollen, sondern die Besten haben ein Recht auf die Rollen der Alten, wenn es an der Zeit ist. Die Zeit ist da, wir haben schon einige Bessere, die meine Rolle übernehmen und, besser als ich es könnte, spielen können. Und weil ich nicht irgendwie Schluß machen kann, weil ich das einfach nicht bringe, aufzuhören und nichts mehr mit dem Fußball zu tun zu haben, deshalb werde ich da weiter machen, wo man mich gebrauchen kann. Ich werde versuchen mitzuhelfen, daß für die Rollen immer wieder neuer Nachwuchs da ist. Mit anderen Worten, ich werde die Schuhe nicht an den bewußten Nagel hängen. Als Trainer werde ich sie sicher noch immer gebrauchen können.

Der letzte Anstoß

Aber um ehrlich zu sein, vor dem Tag meines Abschieds vom aktiven Fußball hatte ich richtiggehend Angst. Nicht so sehr vor dem Augenblick oder vor der Tatsache, nein, vielmehr vor dem Drum und Dran. Man weiß doch, wie das so ist. So eine Sache geht nicht ohne Zeremoniell ab. So etwas wird ein bißchen vorbesprochen, ein bißchen organisiert. Und bei mir war das auch so. Abschiedsworte vor einer großen Kulisse und so. Und davor war mir bange. In aller Stille hätte ich es wohl besser Überstanden. Außerdem, und das war's wohl, hat so eine vorbereitete Angelegenheit immer dem Anflug von inszeniertem Theater. Und dann war alles so ganz anders als befürchtet. Alles, jede Kleinigkeit war so herzlich, so voller wohltuender Ehrlichkeit, daß ich alle meine Vorsätze vergaß und knieweich wurde.

Bei den offiziellen Worten ging es ja noch. "Moppel", hatte ich mir gesagt, durchhalten, an drückende Schuhe denken und an verschossene Strafstöße, nichts anmerken lassen. Aber schon die paar Worte von Helmut Riedel und Manfred Kirste schafften mich, weil sie ganz anders waren, als ich sie erwartet hatte. Und als dann meine Mannschaftskameraden kamen, alle, jeder auf seine Art und mit seinen Worten, mir die Hand drückten, der Peter Ducke und sein Bruder, der Harald Fritzsche und der Werner Heine und die anderen alle und der "Manni" Kaiser, mit dem ich so oft diesen Dreß getragen hatte, als sich auch noch die Engländer ebenso herzlich anschlossen, da war es ganz einfach aus. Und selbst auf die Gefahr hin, Sie schreiben es, sage ich es ehrlich, also da da trat mir das Wasser in die Augen. So sagt man wohl druckreif.

Wie viel es war, geht vielleicht am besten daraus hervor, daß ich den Ball zum Anstoß, das gehörte ja mit zum Zeremoniell, höchstens ahnte, aber nicht sah. Zum ersten Mal in all den Jahren und Spielen bewahrte mich rneine Routine bei einem simplen Anstoß davor, nicht am Ball vorbei oder gar in den Sand zu treten. Dann war es geschafft, bis auf die endlos lange Strecke bis zum anderen Spielfeldrand. Der herzliche Beifall der Zuschauer half mir sehr auf diesem Wege. Aber die Umarmungen meines Trainers und Freundes Karoly Soos, von Hans Studener und der anderen Kameraden rissen alle noch einmal auf. Ein Glück, daß danach keiner mehr auf mich achtete, sondern das Interesse aller sich auf das beginnende Spiel konzentrierte.

Der frühe Beginn

Ja. so war das bei meinem Abschied. Und wie es anfing? Ich bin am 3. Mai 36 Jahre alt geworden. Der Anfang liegt also schon mehr als 25 Jahre zurück. Das heißt, der eigentliche Beginn meiner Bekanntschaft mit dem Fußball war noch früher, denn vor dem Tag, an dem ich als zehnjähriger Steppke in einer ordentlichen Mannschaft anfing, lag ja noch die Lehr- und Wanderzeit in den verschiedensten Straßen und Stadtteilen meiner Heimatstadt. Ich bin Brandenburger. Wir wohnten damals in der Luckenberger Straße, kolossal pompös. Das heißt, das Haus war pompös. Wir wohnten in einer Villa - im Kellergeschoß. Mein Vater arbeitete in den Mitteldeutschere Stahl- und Walzwerken, aber für diese Wohnung reichte es. Außerdem spielte er beim Fußballverein Brandenburg (FVB) und später beim Brandenburgischen Ballspielclub (BBC) 05 als Stürmer bei den 1. Herren. Der Name Erich Schröter hatte zusammen mit dem seiner Kameraden, Mittelläufer Otto Hagen oder Mittelstürmer Moppel Bertz, sogar einen guten Klang.

Immerhin gehörte ihre Mannschaft der damaligen Gauliga an. Mein Vater war damals ein Fußballer, wie ich sie liebte. Nur klein von Statur, wir sind so ein Schlag, aber ein guter Techniker, der für seinen geliebten Fußball durchs Feuer ging. Wenn er sich mit seinen Freunden auf den Laubengrundstücken nahe der "Musterwiese" in Brandenburg traf, abends, wenn sie trainiert hatten, dann konnten sie stundenlang vom Fußball erzählen, und wir Knirpse saßen dabei mit glühenden Ohren. Ich kann es mit gutem Gewissen sagen, wenn andere ihre Vorbilder in Sindelar, Szepan oder Zamora sahen, mein Vorbild hatte keinen so großen Namen, aber ich habe ihn deshalb nicht weniger verehrt, denn mein Vorbild war mein Vater. Das hatte natürlich sein Gutes. Mein Vater muß das gespürt haben.

Er nahm mich oft, dann sogar fast überall mit zu den Spielen seiner Mannschaft, manchmal sogar nach außerhalb, und außerdem brachte er ein gewaltiges Maß an Verständnis für meinen übergroßen Fußballeifer und die manchmal damit verbundenen Unarten auf, die meiner Mutter wiederum ernste Sorgen bereiteten. Wie alle fußballbesessenen Jungen fehlte mir natürlich das rechte Maß. Aber wer könnte uns das verübeln. Wir waren alle rechte Jungen, die keine Blechbüchse, keinen halbwegs runden Stein oder sonstwas liegensehen konnten, ohne den unbezähmbaren Drang zu verspüren, dranschlagen zu müssen. Wenn wir nach der Schule unsere Ranzen zu Torpfosten machten und loslegten, dann gab es als Gründe für Spielabbrüche höchstens höhere Gewalten. Unser Lehrer zum Beispiel oder Radfahrer, die, angeschossen, es an Verständnis mangeln ließen, eine eingeschlagene Scheibe oder Dunkelheit. Hunger oder Regen aber haben uns nie kapitulieren lassen.

Zuerst einmal abseits

Allerdings hatte ich bei solchen Spielen die ernstesten Schwierigkeiten, überhaupt angenommen zu werden. Denn ich war ein rechter Knirps, ich war der Kleinste, ich war überhaupt immer der Kleinste. "Moppel", sagten meine Schulkameraden, "du bist zu winzig, wo sollen wir dich hinstecken, ohne Angst haben zu müssen, dich dauernd unter den Füßen zu haben?" So stand ich oftmals unberücksichtigt abseits, wenn sie über den großen Onkel wählten: tip-top-tip-top. Aber nahmen sie mich hier nicht, versuchte ich es eben woanders. Irgendwo kam ich immer unter. Es war ganz natürlich, daß ich meine körperliche Unterlegenheit dadurch auszugleichen versuchte, indem ich unermüdlich übte, alles mit dem Ball zu machen. Und der Enderfolg? Wurde ich einmal genommen, durfte ich mitspielen, und war ich dann am Ball, dann war ich dran. Denn sollte erst einmal einer kommen, der ihn mir nehmen wollte. Die Längsten hatten dann die größten Schwierigkeiten mit mir. Ich tändelte mit dem Ball, kurvte und umspielte, bis es den anderen zuviel wurde und sie mich einfach umsäbelten. "Der Moppel ist ein rechter Fummler" sagten sie damals.

Und das stimmte wohl. Ich war nach und nach dazu geworden. Ich war grenzenlos ballverliebt. Vielleicht, nein sicher, hat sich ein Stück davon bis heute gehalten. Ich weiß das und bin auch gar nicht böse, wenn man mir das vorhielt. Heute kann ich nicht mehr genau sagen, wie oft ich in der Nikolai-Schule und später in der Jahn-Schule meinen Lehrern Grund zur Zufriedenheit gab oder umgekehrt. Es muß sich annähernd die Waage gehalten haben. Aber alles, was mit dem runden Ball zusammenhängt, ist mir noch immer gegenwärtig. Endlich richtiger Fußball. Es war in Rathenow, als ich das erste Mal mit dem richtigen Fußball in Berührung kam. Mein Vater hatte mich zu einem Spiel der Männermannschaften mitgenommen. Ich wurzelte, wie das damals so war, mit Gleichaltrigen vor dem Spiel auf dem riesigen Feld herum. Es muß wohl nicht sehr schlecht gewesen sein. Jedenfalls hörte ich, wie ein Mannschaftskamerad meines Vaters zu ihm meinte: "Schade, wenn dein Kleiner nur nicht soo klein wäre. Fußballspielen kann er, wenn er bloß ein bißchen stabiler wäre. Aber melde ihn doch an. Vielleicht wird doch was aus ihm."

Willi Conrad, Neue Fußballwoche, 11.06.1963