Mit Dynamo Berlin auf großer Fahrt

Die zweite und entscheidende Meisterschaftshälfte hat begonnen. Die Jagd nach den Punkten zieht wieder Tausende und Hunderttausende in ihren Bann. Zwischen der ersten und der zweiten Serie lagen fünf Wochen Pause. Die Zeit des Kräftesammelns, der Vorbereitung auf die nächste Runde. Alle Mannschaften haben diese "Ruhe" gut genutzt; jede auf ihre Art. Einige gingen auf Reisen. Der SC Empor Rostock spielte in Dänemark und Schweden, der SC Aufbau Magdeburg in Polen, der SC Chemie in Ungarn und der SC Motor Karl-Marx-Stadt in der Sowjetunion. Der SC Dynamo Berlin gar legte über 22.00 Flugkilometer zurück, weilte bei Freunden in Korea und China. Groß waren die Erlebnisse, reich sind die Erinnerungen, überwältigend die Eindrücke. Viele Notizen erinnern an Begegnungen mit Menschen, die unsere Freunde sind, Fotos zeigen das Neuartige, das in einem unwahrscheinlichen Tempo täglich auf uns einstürmte.

Diese Eintrittskarte erinnert an das Spiel in Tientsin, dieser Kofferkleber an das Hotel Sintschao in Peking, diese Souvenirs an Phöngjang, an Stunden und Tage, die immer zu den schönsten in unseren Erinnerungen zählen werden. Phöngjang, den 18. Juli. Wir sind eben mit einer Sondermaschine gelandet, sind in Korea, dem "Land der Morgenfrische". Auf dem Flugplatz steht eine Gruppe koreanischer Sportler. Kaum haben wir das Flugzeug verlassen, stürmen sie auf uns zu, umarmen uns, überreichen Blumen. Das Händeschütteln will schier kein Ende nehmen. Auch die Angehörigen der Botschaft unserer Republik entboten uns ihren Willkommensgruß. Ihnen, an der Spitze Kulturattaché Hans Wullstein, gebührt an dieser Stelle unser besonderer Dank. Liebevoll kümmerten sie sich in den folgenden Tagen um uns, sorgten immer wieder für Abwechslung.

Unser Bus, ein Skoda, bringt uns zum Hotel "International". - Gleich sammeln sich Passanten an, verständigen sich, nicken einander zu: Die Berliner Mannschaft ist da! Es ist wie in allen Ländern: Fußballatmosphäre! Man ist neugierig und gespannt. Aber noch etwas läßt die Schaulustigen verharren: Die Dynamospieler stellen sich in kurzer Hose und Campinghemd vor. Bei 30 bis 35 Grad C die richtige Kleidung. Verwunderte Blicke aber sieht man bei den Gastgebern: Der luftige Aufzug ist in Korea ganz und gar nicht landesüblich. Dann begeben wir uns zum Mittagstisch. Kaum aber haben wir an der reichgedeckten Tafel Platz genommen, wollen wir mit der koreanischen Küche Bekanntschaft machen, da tönt es laut vom Eingang her: "Da sind sie ja. Herzlich willkommen!" Das Klappern der Bestecke verstummt. Erfreut begrüßen wir Spezialisten aus unserer Republik, die dem jungen Staat beim sozialistischen Aufbau helfen.

Gleich hieß es Auskunft geben: Was macht Aufbau Magdeburg? Wie steht's in Brieske? - So geht es hin und her. Ingenieur Hucke und Montagemeister Rudolf Riedel vom Schwermaschinenbau "Ernst Thälmann", Chefmonteur Kurt Waldau aus Ortrand (Senftenbergs) vom Sachsenwerk, später kommen noch weitere hinzu, sind sehr wissensdurstig. Bald ändert sich das Bild. Wir fragen. Wie auf einem Forum geht es zu. Wir erfahren einiges aus der Geschichte dieses schwergeprüften Landes und seiner tapferen Bewohner. Korea ist ein reiches Land, reich an Mineralien. Die uns Auskunft geben, loben die Schönheit dieses Landes. Später wurden wir selbst in ihren Bann gezogen. Unzählige Flüsse, Kanäle und Gräben, ein ausgedehntes Bewässerungssystem für die riesigen Reisfelder durchziehen das Land. Idyllische Seen, eingebettet in Berge und Hügel, reizen immer wieder zum Fotografieren.

Was aber nutzten unseren Freunden früher die Reichtümer und Naturschönheiten? Wenig, nichts! Fast 40 Jahre war Korea Japanische Kolonie, Tummelplatz der japanischen Imperialisten. 10 Jahre wurde ein Volk grausam unterdrückt, war billigste Arbeitskraft. Mehr nicht! Millionen und aber Millionen preßten die "Herren" aus dem Boden, aus den Menschen heraus. - Alle leitenden Funktionen, vom Vorarbeiter aufwärts, übten ausschließlich Japaner aus. Am 15. August 1945 schlug auch in Korea die Stunde der Befreiung. Die Volksrepublik entstand! Doch die Feinde ließen diesen Menschen keine Ruhe. Fünf Jahre später stand ein ganzes Volk geschlossen auf und verteidigte seine eben erlangte Freiheit, seine Reichtümer und seine Naturschönheiten gegen die USA-Eindringlinge und deren südkoreanische Söldlinge. Phöngjang, so erfahren wir, wurde dem Erdboden gleichgemacht. Zweimal war die Hauptstadt Frontgebiet.

Viele male haben USA-Bomber diese Stadt am Tä-Ton-Gang mit Bomben belegt. Die Theorie der verbrannten Erde, die heute in den Plänen der westdeutschen Militaristen eine große Rolle spielte, wurde dort vorexerziert. Inzwischen ist Phöngjang neu erbaut, großzügig und modern, wo früher Katen standen, ragen heute vier-, fünf- und sechsstöckige Häuser empor. Sie mögen recht haben, wenn Sie sagen, das wäre nichts Besonderes. Etwas Besonderes jedoch ist das enorme Tempo, mit dem man dort diese Häuser aufbaut. Bei unseren Streifzügen fragen wir immer nach der Bauzeit. Die Antworten setzen uns ständig wieder in Erstaunen, lassen uns ungläubig dreinschauen. Dafür ein Beispiel. Es ist typisch. In Phöngjang wird am 15. August, dem Tag der Befreiung, ein Stadion eingeweiht. 70.000 Sitzplätze wird es haben.

In ganz Korea gab es früher kein derartiges Stadion. Man hat dort naturgemäß auch keine Erfahrungen, wie eine solche Sportstätte zu bauen ist. Des Stadion aber, das jetzt seiner Vollendung entgegengeht, kann sich neben jedem anderen in der Welt sehen lassen. Was aber so ziemlich einmalig in der Welt sein wird, das ist die Bauzeit: Knapp sieben Monate! Am 23. Juli war es, in Tag vor dem Spiel gegen die Auswahlmannschaft der SV "Blitz". Dynamo gewann hier 2:0. Da besuchten wir die Bauarbeiter und leisteten auch einen Arbeitseinsatz. Welch ein Gewimmel auf dem Baugelände. 2.000, vielleicht waren es auch 3.000 freiwillige Helfer, die wir an diesem Tag dort sahen. Und wie wie arbeiteten! Mit den einfachsten Mitteln werden Baumaterialien transportiert. Auf dem Rücken tragen Jungen und Mädchen einfache Kiepen aus Bast oder Schilf, schleppen so Steine, Erde und Bauteile. Nur wenige Maschinen waren zu sehen.

Es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, daß dieses Stadion nur in Handarbeit gebaut wird. Eine schwere Arbeit, doch sie vollzieht sich im Takt der Lieder. Gruppen, die Pause haben, formieren sich zum Volkstanz, Kapellen spielen. Lachen und Scherzen herrscht auf den Baustellen. Dieser Schwung übertrug sich auch auf uns. Wir knieten uns in die Arbeit. bald waren die Fußballer schweißüberströmt. "Moppel", "Klinge", Klaus Thiemann hatten nach einer Stunde Blasen an den Händen, und Clubleiter Werner Kramer glaubte, mindestens ein Pfund abgenommen zu haben. Woher kommt diese Begeisterung, wie ist dieses geradezu enorme Aufbautempo möglich? fragten wir uns immer wieder. Antwort darauf gab uns unser Dolmetscher, der an der DHfK sein Sportlehrerdiplom erwarb: "Früher bestimmten Fremde, Feinde, unsere Geschicke", sagte Ri Zang Son.

"In unserem Lande herrschte Arbeitslosigkeit. Der Hunger war ständig unser Gast. Während die Japaner Millionen an unserem Reis verdienten, fehlte uns oft die Handvoll, um satt zu werden. Heute ist bereits Wirklichkeit, was wir einst erträumten. Damals hungerten wir, heute dagegen kostet ein Kilogramm Reis 7 Zon - 14 Pfennig - die Partei zeigte den Weg zu besserem Leben. Wenn andere Länder einen Schritt vorangehen, dann müssen wir immer zehn vorwärts gehen." So erklärt sich das "Rätsel", das eigentlich gar kein Rätsel ist. Am 15. August ist in Korea ein Festtag. Zum 15. Male jährt sich der Tag der Befreiung vom japanischen Joch. An diesem Tage werden die Gedanken der Dynamo-Fußballer bei ihren freunden weilen, die an der östlichsten Front des sozialistischen Lagers den Frieden sichern helfen. An diesem tage gilt ihnen unser besonderer Dank, Gruß und Glückwunsch.

Von den Dynamo-Spielern - am allerwenigsten die Trainer - dachte niemand daran, den chinesischen Fußball zu unterschätzen. Janos Gyarmati warnte: "Wer glaubt, hier als Lehrmeister auftreten zu können, wird seine Überraschung erleben." Die Fußballwelt horchte immer wieder auf, wenn die Nachrichtenagenturen Berichte aus der Volksrepublik China meldeten. Das 1:1 und 0:1 gegen Ungarn B, das 1:1 und 1:0 gegen die sowjetische A, der 4:1-Sieg über Libanon besagen schon einiges. So mancher Fachmann glaubte, da vor einem Rätsel zu stehen. Wir sahen am 16. Juli das Treffen der Pekinger Armeeauswahl gegen Racing Beirut vor rund 70.000 Zuschauern. Das war mehr als günstig, gab es uns doch wichtige Hinweise für das eigene Spiel. Wir sahen: Der chinesische Fußballsport hat ein ausgezeichnetes Niveau!

Nach den Spielen bekennen wir offen und ehrlich: Die chinesischen Trainer und Spieler haben die Erfahrungen unserer ungarischen Freunde besser ausgewertet als wir in der DDR. Wir sahen 90 Minuten Tempo-Fußball. Alle Spieler befanden sich In ständiger Bewegung. Sie liefen mit und ohne Ball. Und das bei einer Temperatur von über 30 Grad Celsius! Wir sahen ein ausgezeichnetes Kollektivspiel. Der Wechsel zwischen Verteidigung und Angriff erfolgte schnell und harmonisch. Die ausgezeichneten Kombinationen beruhten auf einem klugen Aufbauspiel der Abwehr. Wir sahen außerordentlich schnelle Flügelstürmer. Auffällig war der starke Einsatz der Flügel durch weite und genaue Steilpässe. Ihr Spiel erinnerte stark an die Aktionen der beiden Ungarn Budai und Sandor. Dadurch wurde die libanesische Verteidigung immer wieder aufgerissen. Wir sahen technisch versierte Spieler. In der Ballbehandlung sind die chinesischen Spieler wesentlich besser geworden.

Sie lieferten ihren Gegnern ausgezeichnete Zweikämpfe. Ballannahme und -abgabe, kurze und lange Pässe erfolgten schnell und sicher. Wir sahen schußkräftige Stürmer. Die alte Schwäche, mangelnde Schußkraft, dürfte überwunden sein. Der Ausgleich in der 26. Minute und das Führungstor (Endstand 2:1) in der 82. Minute waren zwei Prachttore aus 18 und 22 Metern Entfernung. Trainer Gyarmati fand das richtige Konzept: "Konsequente Manndeckung" war die Devise. Mittelläufer Heine wachte weit hinten: die "Halben" hingen etwas zurück und operierten mit den Läufern als Verbinder. Und das Wichtigste: Dynamo kämpfte, kämpfte an diesem Tag bis zum Umfallen. So löste die Berliner Elf am 26. Juli in einem Flutlichtspiel vor 75.000 Zuschauern die Aufgabe mit Auszeichnung. Das 0:0 gegen die Peking-Auswahl (identisch mit der Nationalmannschaft) war ein Erfolg. E konnte nur von einer in Hochform spielenden Dynamo-Elf erzielt werden. Dynamo verdient dafür die Anerkennung.

Otto Jahnke, Neue Fußballwoche, 09.08.1960