Beim SC Dynamo ist immer Zutritt / W. Eberhardt: Kritik bei Tanzmusik im Stadion-Casino

Die Straßenbahnen zu "Mutter Grün" waren voller als die in Richtung Walter-Ulbricht-Stadion. Auch dieses Berliner Lokalderby zwischen Vorwärts und Dynamo zog nicht die Zuschauermassen an, die mancher erwartet hatte. 15.000 Besucher sind in Berlin doch etwas wenig. Lange Anfahrten, Spiele von Bezirksligamannschaften in den einzelnen Stadtteilen, die immer ihr Publikum haben, und der Drang nach der schönen Umgebung sind noch immer wichtige Gegenpole, zumal beide Mannschaften in letzter Zeit die Erwartungen nicht immer erfüllten. Leipzig mit seinen 95.000 Besuchern am Sonnabend ist da wirklich zu beneiden. Ich wette aber, daß schon am nächsten Sonntag bei Vorwärts gegen Wismut ganz anderer Andrang herrschen wird. ja, Wismut "zieht"! Der Erzgebirgstrainer Fuchs war als "Vorauskundschafter" am Sonntag schon als eifriger Beobachter in Berlin anzutreffen.

Dabei lief es im Walter-UlbrichtStudion so temperamentvoll an. Heinz Klemm, der Dynamo-Tormann, saß diesmal als Ersatzspieler hinter dem Gehäuse seines Vorwärts-Freundes Spickenagel. Er meinte nach dem 1:0 zu Matzen: "Dieser Treffer ist hochwichtig". Er sollte der einzige für Dynamo bleiben, obwohl die Elf in der ersten halben Stunde einen ganz modernen Fußball spielte. Ob später die Kraft fehlte? Bei Vorwärts maß man auf Grund der zahlreichen Verletzungen manches verzeihen, aber alles nun auch wieder nicht. Wo blieben beispielsweise Assmys und Wirths Explosivität? Ganz selten blitzte sie auf. Zuwenig, viel zuwenig ...

Wer hat wohl mehr Sympathien in Berlin, wenn man so überhaupt formulieren darf, Vorwärts oder Dynamo? Nun, nach der Sonntagsparade der beiden lag die Geräuschkulisse eindeutig auf seiten von Vorwärts. Wenn beispielsweise Eilitz mit dem Leder am Fuß in altbekannter Manier nach vorn zog, dann gab es tüchtige Anfeuerungen auf den Rängen. Aber diese und ähnliche Aktionen waren nicht häufig genug, um bei der Rundfunkübertragung in der zweiten Halbzeit so etwas wie Fußballgroßkampfstimmung aufkommen zu lassen, und der Radioreporter mußte sich wohl oder übel schlecht und recht über die Runden quälen.

Eines aber muß unbedingt festgehalten werden: Die Begegnung verlief äußerst fair, nahezu beispielgebend für alle unsere Fußballmannschaften. Die Kameradschaft unter den Spielern der beiden Berliner Clubs ist eben zu gut ausgeprägt. Ich dachte zwar, daß die Spieler von Vorwärts und Dynamb den Abend nach dem Spiel gemeinsam verbringen würden, aber es war nicht so. Die Mannen um Spickenagel brausten nach ihrer heimatlichen "Strausbergecke" ab, während Herbert Schoen wie üblich seine Getreuen einschliellich der Ehefrauen und Bräute im Kasino des Walter-Ulbricht-Stadions um sich scharte.

Dort spielte eine kleine Kapelle zum Tage und, was sehr wichtig ist: Jedermann hat Zutritt. Es ist bisher nicht selten passiert, daß mancher Fußballfreund nach einem miesen Spiel am Abend im Kasino im persönlichen Gespräch mit dem "Schuldigen" seinem Herzen Luft machte, aber auch an Anerkennung hat es nicht gefehlt. Mir scheinen diese Kontakte recht nützlich zu sein, und was das Sonntagsspiel anbetrifft, so nehme ich an, daß des Volkes Stimme wie immer geteilter Meinung sein wird. Aber Kritik läßt sich wahrscheinlich bei Tanzmusik leichter sagen und sicher auch besser ertragen ...

Werner Eberhardt, Neue Fußballwoche, 11.09.1956