01. Spieltag 1976/77: 1. FC Union Berlin - BFC Dynamo 1:0

Verlängerung mit Einwürfen
Die Tabelle von heute sollten sich die Beteiligten einrahmen, die obere und die untere Hälfte getrennt natürlich. Hinter den Rücken der "Goliaths" schlagen sich derzeit die "Davids" gleich dutzendweise lachend auf die Schenkel. War das ein Auftakt! Ein Karneval? Von einem "Muster ohne Wert" sollte man auf keinen Fall reden, denn schriller konnten die Wecker nicht rasseln, in Leipzig, in Berlin, in Magdeburg. Selbst wenn dieser oder jener Kanada-Rückkehrer den Eindruck hinterlassen haben sollte, vom verdienten Urlaub noch nicht sehr weit entfernt zu sein (in Berlin war es z. B. der vom Union-Vogel arg zerrupfte Hans-Jürgen Riediger), so blieben doch drumherum eine ganze Menge von Nationalelf-Anwärtern ziemlich ruhmlos mit auf der Strecke.  In Bälde wollen sie im Europacup einige Bäume umlegen - mit dem Spaten?

Stammgäste des Berliner Derbys - zu dem Samstag die Mitglieder und Kandidaten des Politbüros des ZK der SED Erich Mielke, Konrad Naumann, Harry Tisch und Egon Krenz begrüßt wurden - können sich an keine Kulisse von 45.000 erinnern. Bis zum nächsten Derby, erneut im Stadion der Weltjugend, wird das als Oberliga-Rekord stehenbleiben, weil nirgendwo ein größeres Stadion bespielt wird. 45.000, obwohl "Hausherr" Union 25 km von seiner Heimstatt entfernt spielte! Es war der I-Punkt auf der Gesamtsumme der 158.000, die diesen Samstag zum Rekordtag der bisherigen Start-Tage machte. "Förmlich eingetrichtert habe ich der Mannschaft: drei bis vier Chancen werden wir haben, eine davon müßt ihr nutzen!" bekannte Trainer Heinz Werner, den seine Elf anschließend in die Lüfte warf.

"Daß wir dem BFC keine ´offene Feldschlacht´ anbieten konnten, war uns klar. Wir mußten ihm den Spielraum verengen. Zur Basis des Erfolges wurde, daß die drei BFC-Spitzen ausgeschaltet werden konnten und die Mannschaft körperlich so ausgezeichnet in Schuß gewesen ist." Der BFC zog ein "Power-Play" á la Eishockey auf, wie wenn dort einer auf der Strafbank sitzt. Aber Eifer alleine ist eben kein Programm. "Das Tor von Union hatte bei uns eine verheerende Wirkung", bekannte BFC-Trainer Harry Nippert. "Während wir nie mehr zu unserer Linie fanden, wurden bei Union völlig neue Kräfte frei. Wir hatten für diese massierte und energische Deckung kein Rezept." Es ist eben schwieriger als man gemeinhin denkt, jenen Gleichklang an körperlicher, taktischer und technischer Leistungsfähigkeit auf Anhieb wiederzufinden, der sich "Mannschafts-Rhythmus" nennt, wenn er fast vier Monate ungeübt blieb.

Spieltag Nr. 1 demonstrierte aber auch darin wieder Dynamo Dresdens Ausnahmestellung. Bei Union aber wird offenbar derzeit auch manches ungenau taxiert: An absoluten Oberliga-Neulingen liefen nur drei auf (Matthies, Wünsch, Netz), die anderen hatten ihre "Taufe" im Abstiegsjahr oder in anderen Clubs. Und "jung" ist Union auch nicht (Altersschnitt 24,3, BFC 23,5). "Heurige Hasen" sehen anders aus. Die geringe Praxis mit cleveren Oberliga-Verteidigungen war in manchen Abseits-Situationen zu spüren, was zu viele Konter verpuffen ließ. Dennoch: Der bei Anpfiff Jüngste brachte die Entscheidung: Ullrich Netz (19). Später erschien der 17jährige Lutz Hendel.

1. FC Union Berlin:
Matthies; Bohla; Vogel, Weber, Wünsch; Werder, Rohde, Jessa (70. Helbig), Heine; U. Netz (84. Hendel), Sigusch
BFC Dynamo:
Creydt; Jonelat; Noack, Eigendorf (74. Jüngling),Terletzki, Schulenberg, Lauck; Riediger, Netz, Schütze

1:0 U. Netz            (14.)

Schiedsrichter:        Di Carlo (Burgstädt)
Zuschauer:             45.000

Wolfgang Hartwig, Junge Welt, 06.09.1976