03. Spieltag 1956: SC Dynamo Berlin - BSG Lok Stendal 1:4

Wann bekommt dies müde Spiel wieder Kraft? / Gläsers Andeutung besteht zu Recht / Stendal ist kaum Abstiegsanwärter
"Wir Abstiegskandidat?", meinte Trainer Gläser, als bei einem Gespräch vor dem Spiel die Frage auf die Chancen Stendals in der Oberliga kam. "Das ist uns nur angenehm, wenn andere Mannschaften solches glaube", fügte er dann vielsagend lächelnd hinzu. Daß Trainer Gläser diese Worte nicht so leicht hingesprochen hatte, bewies der Spielverlauf anschließend. Die Berliner Zuschauer, die sich an diesem Sonntag wieder mit Dynamo versöhnen wollten und mit Bestimmtheit den ersten Sieg erwarteten, wurden aufs neue schwer enttäuscht. Nicht Dynamo gab den Ton an, sondern der als Außenseiter betrachtete Gegner. Worin das begründet lag?

Einmal darin, daß der SC Dynamo derzeitig von einer Müdigkeit und Nervosität ergriffen ist, die sich auf die ganze Spielweise auswirkt. Nicht nur das Abspiel ist nach wie vor miserabel, weit schlimmer: hinter aIlen Aktionen steckt weder Saft noch Kraft, sie bleiben oftmals nur Halbheiten. Hätte beispielsweise Dynamos Verteidigung stets so entschlossen und einsatzvoll angegriffen, wie man es auf der Gegenseite sah, wären zumindest zwei Tore vermieden worden. Überdies fand sich Bock überhaupt nicht zurecht und irrte zuweilen hilflos in der Gegend umher. Heine und Maschke blieben als Läuferpaar ebenfalls ohne Wirkung -, sie brachten es nicht fertig, ihren Sturm zu unterstützen.

Wie oft landete ihr Abspiel in den Beinen des Gegners! Im Sturm sah man eigentlich nur einmal eine mitreißende Aktion von Format. Sie brachte schließlich auch das einzige Tor. Matzen und Wrobel zogen auf der linken Seite eine prächtige Zweier-Kombination auf, schalteten schließlich auch Skaba ein, und dessen Schuß aus spitzem Winkel konnten nur noch Werners Hände aufhalten. Mit Ach und Krach verwandelte Heine den Strafstoß. Vom Pfosten sprang das Leder gerade noch ins Netz. Trainer Petzold, am Spielfeldrand auf seinem kleinen zusammenklappbaren Hocker sitzend, konnte einem leid tun. Vergeblich rief er den Spielern zu: "Über die Flügel, über die Flügel!"

Im Stendaler Strafraum schien ein großer Magnet angebracht, denn dort landeten die unkonzentriert und oft zu kompliziert vorgetragenen Angriffe immer wieder, dort standen konsequente Verteidiger und bereinigten die wenigen gefährlichen Situationen. Manch einer - und ehrlich gesagt auch wir - waren dagegen erstaunt über das herzerfrischende und, ganz im Gegensatz zu Dynamo, unkomplizierte Spiel der Stendaler Mannschaft. Ihr Sleg, das kann man hier offen sagen, ist nicht durch Glücksumstände, ja nicht einmal allein wegen der unerfreulichen Leistung Dynamos zustande gekommen.

Stendals Mannschaft verdiente sich ihn! Nicht wegzudenken wäre im Augenblick der Mittelpunkt der Mannschaft, Weißenfels. So oft man ihn auch beobachtete, es war geradezu erstaunlich, wie er sich jederzeit im Mittelfeld, freistellte, wie er immer wieder den Ball auf sich zog und die Kombinationen seinerseits weitersponn oder selbst in der Mitte vorstieß und verteufelt gefährlich abschoß. Am Ende hatte er vielleicht nicht mehr ganz die nötige Kraft und spielte etwas zu eigensinnig. Doch was er geschickt begann, das führten die schnellen und gewitzten Stürmer neben ihm zumeist weiter. Sie spielten schnell, ohne zu zögern ab, setzten unaufhörlich die Flügel ein, die seltsamerweise immer wieder frei standen: das war die Grundlage des Erfolgs.

Von den Flügeln her kamen dann stets Flanken vor das Tor, wir zählten sechs von ihnen, die höchst präzise auf den Fuß eines Stürmers gelangten. Das erste Tor war ein Musterbeispiel. Lahutta, umschwärmt von einigen Abwehrspielern, erhielt den Ball einen halben Meter vor der Torlinie und konnte sich die Ecke aussuchen. Wir meinen, daß Stendals Stürmer, die offensichtlich in letzter Zeit viel gelernt haben, die vor allen Dingen mit so viel Witz und Ideen ihr kämpferisches Spiel würzen, in nächster Zelt für noch einige Überraschungen mehr sorgen werden.

SC Dynamo Berlin:
Klemm; Michael, Schoen, Bock; Maschke, Heine; Wrobel, Schröter, Skaba, Schäffner (46. Holze), Matzen
BSG Lok Stendal:
Reh; Tanneberger (23. Gradetzke), Bartnicki, Werner; Brüggemann, Neubauer; Karlsch, Lindner I, Weißenfels, Lahutta, Liebrecht

0:1 Lahutta            (10.)
0:2 Weißenfels         (29.)
1:2 Heine              (35., Handstrafstoß)
1:3 Karlsch            (56.)
1:4 Gradetzke          (88.)

Schiedsrichter:        Neumann (Forst)
Zuschauer:             8.000

Götz Hering, Neue Fußballwoche, 27.03.1956