23. Spieltag 1954/55: ZSK Vorwärts Berlin - SC Dynamo Berlin 1:3

Wirkung vom Vorsonntag nicht erreicht / Aber vorhandene Torchancen ausgenutzt / Vorwärts-Stürmer zu umständlich
Es kam auch diesmal wieder so: hat man seine Erwartungen zu hoch geschraubt, dann wird meistens nichts daraus, man wird enttäuscht. Ohne Zweifel hatten wir von der Berliner Lokalbegegnung sehr viel erwartet, vor allem von Dynamo, wenn die letzte große Leistung gegen Lokomotive Leipzig zum Maßstab genommen wird. Aber Herbert Schoen sagte mir schon vorher: "Wir gehören leider zu den unbeständigsten Mannschaften unserer Oberliga, und häufig folgten auf große Spiele weniger eindrucksvolle Leistungen." Der Dynamo-Stopper hat mit dieser Feststellung recht behalten, wenn die Elf auch durchaus gerechtfertigt 3:1 siegreich geblieben ist. Aber dieser Kampf hielt nur wenig von der spannungsgeladenen Atmosphäre, die ihn vorher umgab. Er war nicht mehr als ein durchschnittlich gutes, und wenn man will, auch schlechtes Oberligatreffen. Er fand aus zweierlei Gründen auch nicht den erwarteten Publikumszuspruch.

Einmal wurden sicherlich viele Fußballfreunde durch das unfreundliche Wetter davon abgehalten, den Weg auf den Sportplatz zu gehen, denn von den frühen Vormittagsstunden an pfiff ein heftiger, von Regenschauern begleiteter Wind durch die deutsche Hauptstadt, der den Aufenthalt im Freien äußerst ungemütlich machte. Zum Zweiten war das Spiel vom Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark ins Walter-Ulbricht-Stadion verlegt worden, so daß viele Besucher, denen die Rundfunk- und auch Zeitungsnachricht unbekannt geblieben war, vor den verschlossenen Türen des Jahn-Sportparkes enttäuscht umkehrten. Dort war das Rasenfeld völlig verschlammt. So traten die Kontrahenten auch zum Rückkampf im Ulbricht-Stadion an, wo Dynamo am Silvestertage des vergangenen Jahres eindrucksvoll 1:0 gewonnen hatte. Die Klasse dieses Spiels erreichte die Revanche bei weitem nicht! Betrachten wir zunächst den Sieger: Dynamo überstand einen gefährlichen Ansturm des Gegners sofort in den Anfangsminuten.

Vorwärts hatte mehrfach über den rechten Flügel angegriffen, wo man mit "Wibbel" Wirth die Unsicherheiten des linken Dynamo-Verteidigers Bock offenbar auszunutzen hoffte. Tatsächlich hatte Wirth häufig Vorteile gegen seinen Bewacher, der im Verein mit dem wiedergenesenen Mitzschke recht geschickt operierte. Aber Dynamos Abwehr erwies sich als zu hart für die Vorwärts-Stürmer, und da auch Klemm einen weitaus sichereren Eindruck machte als einen Sonntag zuvor, blieben die Versuche des Gegners erfolglos. Dynamo gewann schlagartig an Stärke und Durchschlagskraft, als Schröter schon in der 7. Minute plötzlich ein Treffer gelang, der zweifellos vermeidbar war. Nach einem Freistoß von Halblinks prallte der Ball von Huth zu dem dicht danebenstehenden Schröter, weil der linke Vorwärts-Läufer nicht abgespielt, sondern "gefummelt" hatte. Obwohl Dynamo einige recht geschickte Angriffe aufzog, wobei wieder die Wechselmanöver zwischen Schlosser, Holze und Matzen auffielen, wurde die hohe Wirkung wie gegen Lokomotive Leipzig nicht erzielt.

Das mag zum Teil daran gelegen haben, daß der heftig entgegenblasende Wind das Zuspiel erschwerte. Aber vor allem fand Möbius nicht seine überragende Form, trotz vieler effektvoller Aktionen am Ball. Das rhythmische Zusammenfließen war nur selten einmal zu sehen, wenngleich alle Dynamo-Spieler technisch eindrucksvoll waren (Schröter hatte die Lacher bei seinen Tricks oft auf seiner Seite). Aber eins hat Dynamo auch diesmal verstanden: aus den vorhandenen Torchancen wurden Treffer gemacht! So war auch das zweite Tor Schlossers sehenswert, als Schröter ihm nach langem Dribbling das Leder lang und genau so vorlegte, daß Spickenagel keine Chance blieb. Fast mit dem Pausenpfiff schoß Holze ein weiteres Tor nach Vorarbeit von Schlosser. Die Weisung Trainer Petzolds, in der zweiten Halbzeit mit dem Winde als Bundesgenossen kräftig zu schießen, wurde allerdings nicht befolgt.

Spickenagel rettete zweimal noch großartig gegen die durchgebrochenen Matzen und Möbius, aber das Dynamo-Spiel verlor immer mehr an Linie. Beim Verlierer konnte man auch diesmal wieder die alten Schwächen erkennen. In beiden Halbzeiten hatte Vorwärts recht nett und hausbacken kombiniert. Aber liebe Freunde, was wollt ihr nur mit eurer Umständlichkeit erreichen? Kaum einer der jungen und gewiß noch unerfahrenen Stürmer, nicht einmal "Wibbel" Wirth, nahm sich ein Herz und stellte Klemm einmal auf die Probe (ausgenommen die ersten Minuten). Bei einer so harten, manchmal auch nicht ganz astreinen Abwehr wie der Dynamos, kann man nicht "bis in die Steinzeit" hinein kombinieren und querpassen. Irgendeiner der Abwehrspieler erwischt den Ball irgendwie immer noch. Hier erwies sich besonders Herbert Schoen erneut als überragende Abwehrkraft.

Freilich verschuldete er einen vollauf berechtigten Elfmeter gegen den ballführenden Mitzschke, der im Strafraum glatt umgehauen wurde. Kiupel verwandelte den Strafstoß sicher. A propos Kiupel: wo blieben diesmal seine langen und gefahrschaffenden Vorlagen an die Flügel? Verstand er sich nicht mit dem "blinden" Wachtel? Und dann Kohle: den Ball nicht so lange halten, schneller abspielen, Recht wacker hielt sich auch diesmal der lange Giersch, er schränke Möbius in seinem Wirkungskreis ein. Die drei Verteidiger machten einen nicht immer sicheren Eindruck, es fiel ihnen allerdings in der zweiten Halbzeit leichter, den Gegner zu stoppen, weil der Ball sehr oft unkontrolliert aus der Dynamo-Deckung angesegelt kam. Die Schwäche von Vorwärts liegt aber ohne Zweifel im Sturm. Er muß lernen, einfallsreicher und steiler anzugreifen. Auch im Antritt auf kurze Distanz war Dynamo glatt überlegen.


ZSK Vorwärts Berlin:
Spickenagel; Eilitz, Klose, Marotzke; Giersch, Huth; Wirth, Mitzschke, Kohle, Kiupel, Wachtel (46. Fritsche)
SC Dynamo Berlin:
Klemm; Haufe, Schoen, Bock; Maschke, Usemann; Holze, Schröter, Schlosser, Möbius, Matzen

0:1 Schröter           ( 7.)
0:2 Schlosser          (14.)
0:3 Holze              (45.)
1:3 Kiupel             (68., Foulstrafstoß)

Schiedsrichter:        Franke (Jahnsdorf)
Zuschauer:             8.000

Heinrich Müller, Neue Fußballwoche, 29.03.1955