22. Spieltag 1954/55: SC Dynamo Berlin - SC Lok Leipzig 6:4

Duo Schröter-Möbius beherrschte die Szene / Der unermüdliche Halblinke "Arbeitspferd" und Schütze in einer Person
Ein Oberligakampf auf hohem spielerischem Niveau im Walter-Ulbricht-Stadion in Berlin! Würden doch unsere Vertretungen der obersten Leistungsklasse immer so gut, so ideenreich, so fair spielen, dann könnte man schon sehr zufrieden sein. Aber es war über weite Strecken dieses schnellen und fesselnden Kampfes das Spiel einer Elf: Dynamos Spiel! Und es war bei aller Würdigung der kollektiven Stärke der Berliner Volkspolizisten das Spiel eines Mannes - das darf man getrost ausnahmsweise einmal behaupten - das Spiel des Halblinken Rudi Möbius, der sich mit seiner wunderbaren technischen Leistung (welche Körpertäuschungen!) und der Erzielung von drei Toren selbst das schönste Geschenk zu seinem 34. Geburtstag machte, den der kleine Halbstürmer am Freitag der vergangenen Woche beging. Was Dynamo etwa eine halbe Stunde lang in der ersten Halbzeit geboten hat, war reine Klasse.

Verblüffend sicher geradezu wußten sich die Spieler auf dem tückisch glatten Boden zu bewegen, wie lief das Leder ohne Pause und häufig im direkten Paß von Mann zu Mann, wie wirbelten die Stürmer unter starker Unterstützung der beiden großartigen Läufer Maschke und Usemann die brüchig gewordene Leipziger Deckung durcheinander: Immer wieder ging Rudi Möbius weit in die eigene Hälfte zurück und schleppte das Leder heran, tauchte plötzlich an irgendeiner Stelle völlig ungedeckt vor dem Gehäuse des diesmal weniger guten Günther Busch auf. Drangvoll stürmten die beiden schnellen Außen Holze und Matzen an der Linie entlang, immer wieder ihren Bewachern davon, und wie klug setzte auch der elegante Mittelstürmer Schlosser seine Nebenleute ein - das alles war schon sehenswert! Es muß heute noch unverständlich sein, wie die Sportvereinigung Dynamo überhaupt auf den Gedanken kommen konnte, diese in ihrer Harmonie so glänzende Elf während der Saison zu verändern.

Die Quittung ist bekannt: das waren fünf vermeidbare Niederlagen! Meister Turbine Erfurt hätte heute einen stärkeren Widersacher im Wettlauf um den Titel, und wie interessant wäre dieser Streit sicherlich noch geworden. Es bedeutet schon viel, wenn ein so unerbittlicher Kritiker wie unser ungarischer Trainerfreund Janos Gyarmati, der diese Elf selbst eine lange Zeit betreute, sich gegenüber dem Verfasser äußerst lobend über die Leistung Dynamos äußerte! Dabei hat sich der wackere Gegner Lokomotive Leipzig durchaus nicht schlachten lassen. Freilich gibt die Tatsache, daß die Messestädter immerhin vier Tore erzielten, nur eine unwirkliche Auskunft über das Kräfteverhältnis beider Kollektive. Klemm unterliefen mindestens zwei folgenschwere Fehler. Aber das wesentliche war der Ausfall so wichtiger Spieler wie Krause, der sich gegen Meerane verletzte, und Walther, der am Sonntagmorgen plötzlich erkrankte.

In der Hintermannschaft schlich sich immer mehr Nervosität ein. Es wurde in der ersten Hälfte sehr schlecht gedeckt. Beide Läufer, die die konstruktive Offensive mehr lieben als die Abwehr, fanden zu der elastischen Angriffsmethode ihrer Gegenspieler Schröter und Möbius, den überragenden Kräften auf dem Platz, keine Einstellung. So waren Stieglitz (zu schwerfällig!), Zenker und der junge Brandt stark überlastet. Dagegen hatte der Leipziger Sturm sehr viele schöne Szenen und ließ sich auch durch die Torfolge des Gegners nicht erschüttern. Für einen Moment nur steckte die Elf ein wenig auf, als Zenker in der 32. Minute jener böse Schnitzer unterlief, als er nach einem Abschlag von Klemm das Leder in Empfang nahm und aus der Drehung nach innen paßte, dem Ball aber zu schwache Fahrt mitgab. So angelte sich Holze das Streitobjekt und trabte in Ruhe und Würde in Richtung Strafraum ab, wo er Busch ausmanövrierte.

Es war für die tapfer kämpfende Leipziger Elf direkt tragisch, daß der groß aufgelegte Gegner immer dann zurückschlug, wenn ein Anschlußtor erzielt wurde. Man kann das an der Torfolge ablesen. Vornehmlich die rechte Seite mit dem später ausscheidenden Helbig und dem stark spielenden Fröhlich (der sich übrigens auch ein Lob für seine korrekt faire Haltung verdient) zeigte einige gefährliche Züge. Helbig hatte das Führungstor förmlich in den Füßen, als er das Leder nach einem abgewehrten Fröhlich-Schuß an die Lattenunterkante jagte! Behnes und auch Lindners hohe Begabung fiel sofort auf, aber besonders der Halblinke (stark am Knie verpflastert) läuft noch etwas zuviel mit dem Ball. Hier kurz die Torfolge: Holze erhielt in abseitsverdächtiger Stellung den Ball, hob ihn zu dem lauernden Matzen, Stieglitz berührte das Leder noch, Matzen schlug ihn weich über den herauslaufenden Busch ins Netz - 1:0. Abschlag von Klemm, Zenker nimmt den Ball ungehindert an, dreht sich nach rechts und paßt, aber Holze steht dazwischen und schnappt sich das Leder, läuft in schnellem Schritt etwa 30 Meter und schiebt an dem herauslaufenden Busch vorbei ein - 2:0.

Schröter schießt scharf von der Strafraumgrenze ab, der Ball prallt zurück zum auf halblinks stehenden Holze. Der Rechtsaußen schießt sofort mit dem linken Fuß flach in die lange Ecke - 3:0. Lindner würgt sich halblinks durch, bleibt hängen, holt sich den Ball zurück, flankt weit nach rechts. Klemm versucht mit einer Hand zu fausten. Fröhlich ist eher am Ball und stößt ihn mit dem Kopf über die Linie - 3:1. Anpfiff zur zweiten Halbzeit, Möbius zögert nicht lange und schlägt die Kugel flach in die linke Ecke. Busch fällt wie ein "sterbender Schwan", macht keine glückliche Figur dabei! - 4:1. Usemann foult an der rechten Strafraumgrenze Fröhlich. Der Leipziger Halbrechte führt den Freistoß selbst aus. Klemm erwartet eine Flanke und läuft schon heraus.

Der Schuß kommt aber flach und scharf direkt aufs Tor und landet in der kurzen Ecke - 4:2. Möbius dribbelt, deutet einen Tritt auf das Leder an, das jedoch weiterläuft, und täuscht damit seine Angreifer. Dann feuert er ab, Busch hält im Liegen, aber das Leder prallt aus seinen Händen. Möbius ist weitergelaufen und schiebt die Kugel vom linken Torpfosten aus über den Kreidestrich - 5:2. Preßschlag zwischen Helbig und Schoen etwa acht Meter vor dem Tor, der Ball springt in die rechte Ecke - 5:3. Holze ist durchgegangen und schiebt den Ball zu Matzen, der schießt sofort, aber das Leder wird nach rechts abgewehrt. Dort steht Möbius wieder mit dem richtigen "Riecher" und jagt den Ball in die Hanfstricke - 6:3. Gehlhaar, der für Helbig neu hereingenommen worden ist, flankt zu Behne, der fälscht das Leder zu Fröhlich ab, und fertig ist das - 6:4.

Dynamo hat diesen Sieg hoch verdient. An Beweglichkeit, Schnellfüßigkeit und technischem Geschick war die Mannschaft ihrem Gegner diesmal klar überlegen. Leider muß sie einen Verletzten beklagen, den Verteidiger Haufe, der sich eine Gehirnerschütterung zuzog. Er wurde von einem kapitalen Schuß Fröhlichs direkt am Kopf getroffen, spielte aber nach kurzer Pause weiter und fiel in der zweiten Halbzeit nach einem Abwehrkopfball plötzlich um. Allerdings ist eine schwere Verletzung kaum zu befürchten. Vielleicht kann der Verteidiger sogar schon am kommenden Sonntag beim großen Berliner Lokalderby gegen den ZSK Vorwärts wieder dabeisein. Für dieses Treffen im Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark ist Dynamo gut gerüstet. Kann die Mannschaft noch einmal zu so großer Form wie vorgestern auflaufen, dürfte Vorwärts eine Revanche für das am Silvestertage erlittene 0:4 schwerfallen.


SC Dynamo Berlin:
Klemm; Haufe (74. Michael), Schoen, Bock; Maschke, Usemann; Holze, Schröter, Schlosser, Möbius, Matzen
SC Lok Leipzig:
Busch (80. Juny); Stieglitz, Zenker, Brandt; Polland, Baumann; Helbig (73. Gehlhaar), Fröhlich, Behne, Lindner, Vetterke

1:0 Matzen             (27.)
2:0 Holze              (32.)
3:0 Holze              (38.)
3:1 Fröhlich           (40.)
4:1 Möbius             (46.)
4:2 Fröhlich           (54.)
5:2 Möbius             (58.)
5:3 Helbig             (65.)
6:3 Möbius             (72.)
6:4 Fröhlich           (77.)

Schiedsrichter:        Green (Limbach)
Zuschauer:             8.000

Heinrich Müller, Neue Fußballwoche, 22.03.1955