21. Spieltag 1954/55: SC Empor Rostock - SC Dynamo Berlin 1:0

Holtfreter die entscheidende Figur des taktischen Plans / Den Siegestreffer aber erzielte Franz Bialas in der 3. Minute / Das Tandem Schröter-Möbius kapitulierte
Den Zwanzigtausend im Rostocker Ostseestadion fiel ein Stein vom Herzen, als der ganz ausgezeichnete Schiedsrichter Kastner (Dahlewitz) nach 90 turbulenten, dramatischen Kampfspielminuten das Zeichen zum Gang in die Kabinen ertönen ließ. Sie freuten sich aus vollem Herzen über diesen schwer errungenen, doch überaus verdient erspielten Gewinn. Während der Schlußoffensive Dynamos, als Herbert Schoen im Sturm auftauchte und mithelfen wollte, den Ausgleich noch zu erzwingen, beobachteten wir einen Mann, der sonst immer weit hinter dem Tor seiner eigenen Mannschaft postiert bleibt, um durch Rufe gar nicht das ohnehin festliegende Konzept zu stören: Oswald Pfau. Noch 60 Sekunden waren zu spielen, als das Leder neben Lebers Tor ins Aus rutschte. Der Empor-Trainer lief vor, nahm den Ball auf und warf ihn seinem Verteidiger Singer zu, nicht den Hinweis vergessend: "noch eine Minute zu spielen!"

Was mag im Cheftrainer des SC Empor in diesen Minuten vorgegangen sein, fragten sich Rundfunkreporter Werner Eberhard und der Chronist. Nun, wir hatten am Samstagnachmittag als Gäste seiner Mannschaftsbesprechung beigewohnt und waren in die taktischen Maßnahmen und das Konzept Empors eingeweiht. Wir haben schon oft taktische Besprechungen erlebt und taktische Anweisungen in ihrer Wirkung auf das Spiel kritisch unter die Lupe genommen. Doch selten erlebten wir - übereinstimmend einer Meinung - daß die gegebenen Anweisungen so prachtvoll befolgt wurden. Da hatte Mittelstürmer Holtfreter die Sonderaufgabe, bei Dynamoecken zurückzueilen und den langen Matzen zu decken. Er tat es, er vergaß es nicht einmal. Da sollte Holtfreter in halblinker Position als Sturmspitze spielen und A. Bialas hatte die Aufgabe, den Mittelstürmer zu "markieren". Es klappte. Es lief wie vorgesehen, wenn auch Herbert Schoen Holtfreter nicht aus den Augen ließ und mit ihm auf die Flügel meist auf den linken, wanderte.

Man wollte so Herbert Schoens schwaches linkes Bein und Holtfreters und A. Bialas starken Fuß zur Geltung bringen, in den langen Pässen aus der halblinken Position wurde an Schoen vorbei in die Mitte gespielt, um so die Wirkung bei Schoens schwachem linken Bein entsprechend auszunutzen. Wie war die Wirkung? Nun, Holtfreter und A. Bialas schossen kein Tor, also trat zumeist - zumindest was das Torschießen anbelangt - nicht der erwartete Erfolg ein. Aber gemessen am Endsieg war dieser Schachzug doch von ausschlaggebender Bedeutung. Holtfreter beschäftigte Herbert Schoen mehr, als dem lieb war. Er zog den Dynamo-Mittelverteidiger aus dem Deckungszentrum heraus und schuf so die entscheidenden Voraussetzungen für die Rostocker Torchancen, weil beide Außenverteidiger Dynamos nicht so sicher und sattelfest abwehrten wie wir es bei einer Klassemannschaft erwarten.

Dadurch mußte Herbert Schoen auch noch aushelfen und war überlastet, zumal gerade ihm der seifige, schwere und klatschnasse Boden besondere Schwierigkeiten bereitete. Durch diese taktische Maßnahme kam Empor zu seinen Chancen. Das daraus nur ein Tor wurde, war dieses Mal nicht nur Unentschlossenheit (immerhin verbuchten Zedel und Schneider drei Lattenschüsse und immerhin hechtete Klemm einen akrobatischen Fallrückzieher von F. Bialas aus dem Tor, und als Zedel in der 71. Minute frei vor Klemm stand, sog eine riesige Pfütze den Flachschuß auf und gab dem bereits geschlagenen Klemm die Möglichkeit, dem sicher scheinenden Torerfolg doch noch zu verhindern) sondern, wie zwischen den beiden Klammern geschildert, auch Pech. Doch dieses Pech war wiederum eine Folge der eines Fußballspieles eigentlich unwürdigen Platzverhältnisse. Doch auch die anderen Stürmer lösten ihre Sonderaufgaben. F. Bialas mußte den gefährlichen Matzen bis zur Mittellinie abschirmen, weil Matzen sich gern aus der Tiefe des Raumes anbietet. Es ist sein und auch vor allen Dingen das Verdienst von Rechtsverteidiger Schalter, daß der Dynamo-Linksaußen bald resignierte.

Schaller entpuppte sich als ganz erstklassiger Abwehrspieler und auch seinen Offensivdrang hatte man in die Rechnung die ja schließlich aufging - einbezogen. "Stürmt Schaller, muß A. Bialas die Lücke schließen." Er tat das, und Schaller stürmte einige Male temperamentvoll nach vorn. Bewundernswert die Kraft, mit der er den Ball dabei oft gegen zwei drei Gegner behauptete. Doch da war noch etwas, daß sich entscheidend auswirken mußte, der Zweikampf Schröter gegen Minuth. Leichtgewicht gegen Leichtgewicht, Techniker gegen Techniker, Taktiker gegen Taktiker, dieses Duell entschied der kleine drahtige Minuth glatt nach Punkten für sich: Eine Freude sein Einsatzwille, eine Pracht sein effektvolles Zerstörungsspiel und sein enormes balltechnisches Können. Doch noch entscheidender, noch wirkungsvoller für die große schwere Aufgabe seines Kollektives waren sein Zuspiel, seine Pässe, seine Klugheit im Ballbesitz. Bravo Minuth, bravo, ohne jede Einschränkung!

Bravo auch Schneider, der seinem Nebenmann mit dem sicheren Auge des abgeklärten Routiniers zur Seite stand und wie alle seine Kameraden ein entscheidendes Mehr an Kondition in die Waagschale werfen konnte. Und diese Kondition war es, die Dynamos Gegenoffensive immer dann im Keim erstickte, wenn dem Tor der Rostocker Gefahr drohte. Und es drohte Gefahr! Prachtvoll hielt Leber einen Volley-Schuß von "Moppl" Schröter, Selbstsicher, manchmal aber zu leichtsinnig im Rückspiel auf Leber war Kurt Zapf. Doch was Zapf in der zweiten Halbzeit im Zusammenwirken mit Singer aus der Gefahrenzone drosch, das fand selbst auf diesem tückischen Boden entscheidend öfter den eigenen Mitspieler als es bei der Abwehr Dynamos der Fall war. Und im Mittelfeld rackerten Schneider und Minuth. Sie gaben den vom turbulenten Start weg errungenen Vorteil der Mittelfeldbeherrschung nicht mehr preis. Mit prachtvoller Unterstützung ihrer Halbstürmer (Zedel war der große Zubringer) behaupteten sie dieses Mittelfeld. Doch eines übersahen wir auch dieses Mal nicht.

Trotz der Chancen und trotz des verdienten Sieges für Empor: Im Sturm wird in vielen entscheidenden Phasen der Ball noch zu lange gehalten, wird immer wieder mit dem Abspiel gezögert, nutzten Bialas, Holtfreter und auch Zedel nicht den günstigen Moment des Direktspieles im Strafraum, der den Gegner entwaffnet und der zu Toren führen muß. Die Kritik, und die Anlage dieses Berichtes bezog sich - liebe Leser - fast ausschließlich auf den Sieger, auf Empor. Aber gerade daraus kann man - sozusagen zwischen den Zeilen - das herauslesen, was Dynamo trotz einer ausgesprochen guten Leistung nicht hatte, was den Berlinern fehlte. Das Tandem Schröter-Möbius kapitulierte. Matzen waren entscheidende Schranken gesetzt, und auch Holze kam gegen Singer nicht zur Geltung. Doch trotzdem: In einem auf schwerstem Boden ausgetragenem, turbulenten und von der ersten bis zur letzten Minute dramatischem Spiel zweier fairer Mannschaften war Dynamo ein großer Verlierer, der bewies, daß die Leistungskurve der Berliner ansteigt.


SC Empor Rostock:
Leber; Schaller, Zapf, Singer; Schneider, Minuth; F. Bialas, A. Bialas, Holtfreter, Zedel, Zwahr
SC Dynamo Berlin:
Klemm; Haufe, Schoen, Bock; Maschke, Usemann; Holze, Schröter, Schlosser, Möbius, Matzen

1:0 F. Bialas          ( 3.)

Schiedsrichter:        Kastner (Dahlewitz
Zuschauer:             20.000

Gustav Herrmann, Neue Fußballwoche, 15.03.1955