19. Spieltag 1954/55: SC Turbine Erfurt - SC Dynamo Berlin 5:2

Entscheidende Konter aus der Deckung! / Dramatisches Weise-Tor brachte die Wende zugunsten des DDR-Meisters
Das war ein Fußball-Sonntag! Dramatik, prickelnde Szenen, technische Soloeinlagen und immer wieder forciertes Tempo lösten einander im bunten Wechsel ab. Und erst als die Schneeflocken über Erfurts schönem Dimitroff-Stadion tanzten, ließ der packende Spielfilm zwischen Meister Turbine und Dynamo im Tempo nach. Erst als Dynamo in der zweiten Halbzeit resigniert aufsteckte, war das Spiel endgültig zugunsten der Platzherren entschieden. Eine nicht wiederzuerkennende Dynamo-Elf stellte sich dem Meister, und bis weit in die zweite Halbzeit hinein wogte der harte Kampf  ausgeglichen hin und her. Erst Wallrodts Tor in der 68. Minute nahm den Berlinern den Kampfnerv. Bis zu diesem Zeitpunkt bangten 23.000 Erfurter um den Sieg. Doch zum Schluß kannte ihr Jubel keine Grenzen. Das war verständlich. Doch war dieser tosende Beifall für den nüchternen und objektiven Zuschauer auch Applaus für die Dynamo-Elf, die mit diesem Spiel trotz der klaren Niederlage hoffen läßt, aus der Leistungskrise wieder herauszufinden.

Wenig erfreut notierten wir deshalb die aufgebrachte Stimmung der 23.000, die den Berliner Volkspolizisten einen unwürdigen Abgang durch völlig unberechtigte Schmährufe verschafften. Solche Entgleisungen einer ganzen Anhängerschaft des alten und vielleicht auch neuen DDR-Meisters hättet ihr Erfurter lieber euch und eurer eigenen Mannschaft ersparen sollen. Die elf Dynamo-Spieler spielten absolut fair und anständig, und was an Härten festgestellt wurde, das erleben wir bei jedem Fußballspiel. Tore in diesem turbulenten Spiel erzielte immer die Mannschaft, die aus der Defensive konterte und mit weiten und genauen Pässen über die Flügel angriff. Vor dem Wechsel brachte Dynamo den Meister durch solche Tore des erstaunlich schnellen Linksaußen Matzen (wie mag er sich auf Möbius gefreut haben - man spürte es förmlich in dieser Spielphase) an den Rand einer Niederlage. Nach der Halbzeit, als Dynamo auf vollen Touren lief, konterte Erfurt auf die gleiche Weise und Wallrodt-Weise vollendeten das Geschick der nun resignierenden Berliner.

Dabei bestimmten klare taktische Dinge diesen Ablauf des Spiels. Turbine blieb seinem Erfolgsrezept der letzten 4 Monate treu (die letzte Niederlage bezog der Tabellenführer am 17. Oktober 1954 mit 1:2 in Halle und ist seitdem ungeschlagen): stürmische Eröffnung, Torüberfall in den ersten Minuten, so begann der Meister. Bereis in den ersten Minuten sauste ein Flachschuß Rosbigalles am Tor vorbei und ein Kopfstoß von "Jule" Hammer auf eine lange Maßvorlage Jochen Müllers verfehlte nur um Zentimeter ihr Ziel. Dynamo verteidigte verbissen. In der 9. Minute erreichte Matzen ein langes Zuspiel von Möbius, ein langgezogener glasharter Schuß, und Jahn mußte (völlig verdutzt nachsehend) zum ersten Male hinter sich greifen. Energisch griffen nun die Erfurter an, und knapp drei Minuten später sprang ein satter Schuß Rosbigalles vom Rücken des unglücklichen Herbert Schonen für Klemm unhaltbar zum Ausgleich ins Netz.

Turbine stürmte weiter. Müller und Rosbigalle spielten völlig offensiv. Plötzlich war Matzen wieder durch. Ein Schuß, dieses Mal flach in die gleiche Ecke, und es stand 2:1 für die Berliner. Jetzt war "Feuer" im Spiel. Dynamo schien dem 3. Tor näher als Meister Turbine dem Ausgleich. Doch abermals entschied die geringe Zeitspanne von 120 Sekunden zugunsten der Mannschaft, die in die Verteidigung gedrängt war. 34. Minute: Nordhaus hob einen Freistoß meisterhaft auf Vollraths Kopf und schon zappelte das Leder zum Ausgleich im Netz. 33. Minute: Steilpaß Rosbigalles zu Weise, ein rasanter Spurt, verzweifelt stürzt Klemm heraus. Vergebens - 3:2 für Turbine! Stürmische Abseits-Reklamationen der Berliner. Köpke zieht den Linienrichter hinzu, es bleibt beim 3:2, das Dynamo mächtig verwirrte. Schwache Minuten hatte Turbine gleich nach dem Wechsel. Es spielte nur noch Dynamo, und der Ausgleich hing in der Luft. Wunderschön lief der Ball jetzt bei den Berlinern. Doch nun wiederholte sich das Schauspiel der ersten Halbzeit mit umgekehrten Vorzeichen. Ein Konterschlag Turbines, ein Prachtschuß von Wallrodt in der 68. Minute, und es stand 4:2.

Dynamo besaß nicht mehr die Kraft, das Blatt noch zu wenden. Zwar kämpften die Berliner unverdrossen weiter, aber ihr Druck im Sturm blieb zu schwach, um die nunmehr gefestigte Erfurter Abwehr noch einmal zu erschüttern. Weises 5:2 in der 58. Minute spiegelt nicht das wahre Kräfteverhältnis wider. Beide Torwarte hatten mit dem glatten Boden Schwierigkeiten. Klemm wirkte wesentlich sicherer als Jahn, der bei beiden Matzen-Toren überhaupt nicht reagierte. Michael war schwerfälliger als sonst, und auch Herbert Schoen, trotz eindrucksvoller Abwehrleistungen, hatte Schwierigkeiten mit dem Boden. Solange Dynamo tonangebend war, spielten Usemann-Maschke in der Offensive vielversprechend, doch beide deckten gerade dann nicht genau genug, und immer in diesen Spielphasen schickten Hammer/Hermsdorf ihre Außenstürmer und Vollrath in die Gassen. Das Übergewicht der Erfurter lag weniger im Sturm und in der Verteidigung als in der Läuferreihe.

Rosbigalle-Müller waren die Mentoren des Sieges: Müller mit seinen weiten und genauen Pässen, Rosbigalle mit seinem unerhörten Aktionsradius und Dribbelkünsten (nur den Ball nicht zu lange halten!). Ganz überragend war Helmut Nordhaus, fehlerlos sein Stellungsspiel, kaltschnäuzig in der Zerstörung und haargenau seine weiten, satten Schläge. Dynamo enttäuschte nicht. Die Berliner werden wieder zu ihrer Form auflaufen. Das zeigte dieses Spiel bereits, obwohl "Moppl" Schröter nicht in bester Verfassung war. Aber Schlosser ist kein Mittelstürmer. Er bevorzugt die Technik, ist weich und zieht sich ins Mittelfeld zurück. So hatte Dynamo eigentlich nie eine Sturmspitze, zumal Möbius-Schröter im Mittelfeld überlastet blieben. Am stärksten war Matzen noch, nicht ganz als der alte zeigte sich Holze. Weise ist ein großartiges Talent, und trotzdem enttäuschte mich der Erfurter nach den letzten Kritiken. Er wirkt oft zu verspielt. Er hat die Qualitäten zu höheren Aufgaben. Wuchtig, stoßkräftig Wallrodt und Vollrath. Unauffällig, doch immer nützlich Hermsdorf. "Jule" Hammer fiel nach einer Verletzung etwas ab.


SC Turbine Erfurt:
Jahn; Hoffmeyer, Nordhaus, Franke; Müller, Rosbigalle; Weise, Hammer, Vollrath, Hermsdorf, Wallrodt
SC Dynamo Berlin:
Klemm; Michael, Schoen, Haufe; Maschke, Usemann; Holze, Schröter, Schlosser, Möbius, Matzen

0:1 Matzen             ( 9.)
1:1 Rosbigalle         (12.)
1:2 Matzen             (15.)
2:2 Vollrath           (34.)
3:2 Weise              (35.)
4:2 Wallrodt           (68.)
5:2 Weise              (85.)

Schiedsrichter:        Köpke (Wusterhausen)
Zuschauer:             23.000

Gustav Herrmann, Neue Fußballwoche, 22.02.1955